Nancy Aris - Dattans Erbe

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»Wenn Sie es nicht finden, wer dann?« Mit diesen Worten macht sich die Historikerin Anna Stehr auf nach Wladiwostok. Sie soll das Tagebuch von Adolph Dattan finden. Er hatte dort das Kaufhaus Kunst & Albers aufgebaut, noch bevor es in Europa Kaufhäuser gab. Sein kometenhafter Aufstieg endet mit dem Ersten Weltkrieg. Ins Räderwerk der Weltpolitik geraten, kehrt er aus der Verbannung als gebrochener Mann nach Naumburg zurück. Ein Jahrhundert später hofft sein Enkel, im Tagebuch die Gründe für die Verbannung zu finden. Anna Stehr geht für ihn auf Spurensuche, doch ihre Reise ist heikel. Die angemietete Wohnung entpuppt sich als Autoschmugglertreff, die Vormieterin scheint spurlos verschwunden. Im Archiv lässt man sie schmoren und abends wartet der postsozialistische Wohnblock mit seinen übrig gebliebenen Bewohnern auf sie. Nach drei Monaten verlässt sie Wladiwostok. Ohne Tagebuch, aber mit einer Spur, die nach Naumburg führt. Was sie dort finden wird, ist spektakulär. Nancy Aris erzählt vom zaristischen Russland, vom Ende der Sowjetunion und von der Gegenwart unter Putin. Der Roman zeigt, wie widersprüchlich ein Eintauchen in Vergangenes sein kann und wie beschränkt historische Erkenntnis ist.

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Nancy Aris Dattans Erbe Roman mitteldeutscher verlag Nancy Aris geboren 1970 - фото 1

Nancy Aris

Dattans Erbe

Roman

mitteldeutscher verlag

Nancy Aris, geboren 1970 in Berlin, Studium der Russistik, Polonistik und Neuesten Geschichte in Berlin, Moskau und Wrocław. Promotion zur Geschichtsschreibung im Stalinismus und umfangreiche Archivrecherchen in Moskau. Seit 2003 ist sie stellvertretende Sächsische Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen. Diverse Publikationen zur Diktaturgeschichte. Im Mitteldeutschen Verlag erschien 2014 „Passierschein, bitte! Nachtnotizen aus Wladiwostok“.

2016

© mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)

www.mitteldeutscherverlag.de

Alle Rechte vorbehalten.

Lektorat: Erdmute Hufenreuter

Umschlagabbildung: fotolia.com – alien185

Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)

ISBN 978-3-95462-764-6

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016

Inhalt

Cover

Titel Nancy Aris Dattans Erbe Roman mitteldeutscher verlag

Die Autorin Nancy Aris , geboren 1970 in Berlin, Studium der Russistik, Polonistik und Neuesten Geschichte in Berlin, Moskau und Wrocław. Promotion zur Geschichtsschreibung im Stalinismus und umfangreiche Archivrecherchen in Moskau. Seit 2003 ist sie stellvertretende Sächsische Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen. Diverse Publikationen zur Diktaturgeschichte. Im Mitteldeutschen Verlag erschien 2014 „Passierschein, bitte! Nachtnotizen aus Wladiwostok“.

Impressum 2016 © mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale) www.mitteldeutscherverlag.de Alle Rechte vorbehalten. Lektorat: Erdmute Hufenreuter Umschlagabbildung: fotolia.com – alien185 Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) ISBN 978-3-95462-764-6 E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016

Die Anzeige

Erstkontakt in den Neunzigern

Post aus München

Ankunft in Wladiwostok

Treffen in Naumburg

Versal & Flober

Im Archiv des Fernen Ostens

Wohnungssuche

Nadezhda, meine Hoffnung

Erste Begegnungen im Block

Regentin des Lesesaals

Olgas Verschwinden

Wolodja

Tom Sawyer streicht ein Zimmer

Kreuzzug in Schlappen

Doppelter Fund

Unliebsamer Besuch

Böse Entdeckungen

Eingangskontrolle

Pflanzenfresser mit Biss

Ljudmila nahe am Wahnsinn

Fotoalben und die Kiste

Sackgasse und Sprint

Bewachung rund um die Uhr

Demut vor dem Dokument

Briefe, Briefe, Briefe

Die Stunde der Wahrheit

Plötzliche Gelassenheit

Magnet

Überraschung im Trott

Die Kündigung

Neue Wege

Kehrtwende

Der Durchbruch

Späte Klärung

Übergabe

Drei Namen

Orakelstimmen

Der Entschluss

Wodka früh um zehn

Aussichten am Meer

Noch mal von vorn

Verbannungsgeschichte reloaded

Krieg

Verhaftet

Verbannt

Eroberer

Verbannung mit Tea-Time

Schwimmendes Massengrab

Geplante Dreharbeiten

Neu in Petrograd

Verzögerte Rückkehr

Ossendowski privat

Unerwarteter Besuch

Flucht nach vorn

Minkchens Briefe

Zweifel

Nichtfinden als Auftrag

Beleidigte Leberwurst

Zettelwirtschaft

17.02.1921-aussergewoehnlich-interessant.doc

Gruß aus Japan

Brief-Finale

Kleine Helfer

Geordneter Rückzug

Minkchen

Abschied

Wieder zu Hause

Die Inspektion

Übergabevorbereitung

Die Offenbarung

Seelentröster

Jetzt erst recht

Die Mühen der Ebene

Das russische Berlin

Alexander

Reisevorbereitungen

Ankunft

Berlin

Premiere

Paris

Zum Buch und Dank

Weitere Bücher

Die Anzeige

Ich hatte gekündigt. Meine Kollegen hielten mich für verrückt. Sie verstanden nicht, wie jemand in meiner Position alles aufgeben konnte. Einfach so, von heut auf morgen. Solide Posten wie dieser waren rar gesät und auch ich war nicht mehr die Jüngste. Sie begriffen die Welt nicht mehr. Warum hörte ausgerechnet ich auf? War ich nicht diejenige, die nie Probleme im Job zu haben schien, die immer gut gelaunt ins Büro kam? Alle wussten, dass mir meine Arbeit Spaß machte. Viele beneideten mich. Die Freiheiten, die ich genoss, waren für mich alltäglich. Doch auch ich wusste, dass es woanders ganz anders zuging. Es gab also keinen Grund, einfach aufzuhören. Und auch für mich hätte es ihn nicht gegeben.

Aber ich tat es.

Von denen, die mich zum Bleiben drängten, wusste keiner etwas von meinem Vorhaben. Außer Bernd, mein Chef. Auch ahnte keiner, dass ich seit einem halben Jahr reich war. Sehr reich sogar. Ohne real etwas dafür getan zu haben, hatte ich über Nacht so viel Geld, dass ich mir um nichts mehr Sorgen machen müsste. Auch für Martin und Paul würde es reichen. Geldprobleme waren mir ohnehin fremd, aber nun wusste ich, dass ich auch in Zukunft nie in Geldnot geraten würde, egal wie viel ich verdiente. Es würde immer reichen. Und das war ungemein beruhigend.

Trotzdem verhielt ich mich nach diesem Geldsegen ganz normal, so wie immer. Ich ging weiter arbeiten, kaufte im Discounter ein und putzte selbst. Äußerlich war kein Unterschied zu bemerken. Wir hatten immer noch kein Auto, wohnten weiterhin in unserer Mietwohnung, und ich kleidete mich nicht bei Max Mara ein, sondern blieb bei meinen Jeans. Nur gingen wir öfter schick essen, nahmen ein Taxi oder buchten im Urlaub teure Hotels. Ich genoss diese Annehmlichkeiten und das Gefühl, nicht mehr darüber nachdenken zu müssen, ob wir uns das leisten konnten oder nicht. Wir konnten.

Warum also hatte ich plötzlich genug von meinem Job?

Angefangen hatte alles an diesem Sonntag im Mai, eine Woche vor meinem Geburtstag. Wir saßen im Garten und frühstückten, obwohl es zu kühl dafür war. Ich hatte Martin und Paul dazu überredet, weil ich gern im Garten saß. Eine gemütliche Frühstücksatmosphäre kam trotzdem nicht auf. Ich hatte sie zwar rumgekriegt, aber sie saßen fröstelnd da, tranken einsilbig ihren Kaffee und verschwanden bald wieder. Ich blieb demonstrativ sitzen, kuschelte mich in eine Decke und begann mit der Sonntagslektüre. Ich liebte es, am Wochenende faul im Garten zu sitzen und in der ZEIT zu blättern. Und plötzlich war da diese Annonce. Ich las keine Stellenanzeigen, hatte das Inserat nur zufällig beim Umblättern entdeckt, weil es riesig war und mir ein russisches Wort in fetten roten Lettern in die Augen sprang:

ВНИМАНИЕ!

Russischsprachige Anzeigen in der ZEIT ? Ich las weiter.

Suche ab sofort Historiker für Archiv-Recherche in Wladiwostok. Vorausgesetzt werden sehr gute Russischkenntnisse, Abenteuerlust und Beharrlichkeit. Bei zufriedenstellenden Rechercheergebnissen erwartet den Bewerber eine überdurchschnittliche Bezahlung.

Dann eine Chiffre-Nummer. Was war das denn? Ich las noch einmal. Es schien ein Widerspruch in sich: Abenteuerlust & Beharrlichkeit, Archivrecherche & gute Bezahlung. Das passte nicht zusammen. Alles wirkte unseriös, auch die russische Überschrift. Und dann noch in der ZEIT . Und wer setzte über eine Stellenausschreibung schon ein „Achtung!“, ein sprachliches Warnschild? Wovor sollte der Rechercheur gewarnt werden? Und was sollte die Chiffre-Nummer? So etwas kannte ich nur von Partneranzeigen. Alles war geheimnisvoll und doch so unprofessionell. Warum stand da nicht, wer der Auftraggeber war und worum es ging? Kein Institut, keine noch so blasse akademische Einrichtung würde so inserieren. Der ganze Duktus war antiquiert, wie aus einer anderen Welt. Offenbar war da jemand am Werk, der noch nie eine Anzeige aufgegeben hatte. Jeder seriöse Historiker hätte weitergeblättert, hätte die drei Sätze, die verloren im protzigen, überdimensionierten Rahmen bibberten, nicht einmal zur Kenntnis genommen. Nur ich hatte sie entdeckt, weil ich immer erst die abseitigen Dinge sah, bevor ich das Offensichtliche bemerkte. Mittlerweile saß ich schon zwanzig Minuten vor dieser Anzeige und grübelte fieberhaft, was dahinterstecken konnte. Was gab es am östlichsten Rand des Russischen Imperiums, kurz vor Japan, zu recherchieren? Mir fielen irgendwelche Geschäfte ein – Pelze, Gold, Kaviar. Vielleicht ein Business mit japanischen Gebrauchtwagen? Aber warum das Archiv und warum ein Historiker, der zudem auch noch beharrlich sein sollte?

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