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Hinter Stacheldraht lagen sie Mann an Mann, manche besaßen eine Decke, eine Zeltplane, andere einen Sack, einen Mantel, manche nichts. Sie verpflegten sich aus Rucksäcken und Brotbeuteln, die Läuse hatten es nahe von einem zum anderen. Am Tag prunkte die Sonne dieses ungeheuren Frühlings, nachts war es bitterkalt. Tag für Tag wurden neue Lastwagenladungen durchs Tor gedrückt, die Ankommenden hockten sich in die Gänge, die letzten fanden nicht mehr Platz, sich hinzulegen. Der Sieger fegte zusammen, was Uniform trug, Soldaten und Volksstürmer, Rot-Kreuz-Schwestern und Hitlerjungen, Wlassow-Verräter und NS-Ortsgruppenleiter, und sonderte erbittert aus: Fallschirmjäger und Waffen-SS.
Er saß auf seinem Rucksack; wenn die Sonne stieg, zog er das Hemd aus. Aus einem Lautsprecher schallten Anweisungen, es sollten Fünfzigergruppen gebildet werden. Feldwebel machten sich an die Arbeit, gewesene Führer schwangen sich zu neuen Führern auf. Er hatte in den ersten Stunden der Gefangenschaft den gefährlichen Zettel, auf dem stand, er sei direkt dem Oberkommando des Heeres unterstellt, zerschnipselt, nun saß er da ohne die Möglichkeit, zu beweisen, wer er war. Als Graf Heribert v. Möllenbrock hätte er ein neues Leben beginnen können oder als Kurt Schulze, hätte sich fünf Jahre älter machen können und bezöge so fünf Jahre vorfristig höhnisch grinsend die Altersrente; aber wie soll ein Neunzehnjähriger auf diese Idee kommen. Er erwog durchaus einen Namenswechsel, denn wie leicht konnten die Amerikaner durch alle bayrischen Camps die Kunde schicken: Fahndet nach dem Werwolf E. L.! Wie, so überlegte er natürlich auch, waren die denn an die Namen gekommen? Diese Möglichkeit bestand: Ein Hauptmann hatte Schnaps ausgegeben und die Empfänger auf einer Namensliste abgehakt, sein Deckungsloch war zuerst aufgespürt und die Schnapsliste gefunden worden. Loest herauskommen! Gietzel herauskommen! Dieser Ruf konnte sich wiederholen.
Aber zunächst einmal wurden Fallschirmjäger und SS- Männer, Wlassowskis und Krankenschwestern, Verwundete und Kranke ans Tor gefordert, die Offiziere bekamen ihr eigenes Geviert, die Sonne jubelte, und die Läuse heckten. Wasser tropfte für Tausende aus einem einzigen Hahn. Tee wurde ausgegeben und nach vier Tagen die erste Suppe. L. kaute mit seinen Nachbarn Gerüchte durch, was mit ihnen geschehen sollte, Lager in Texas oder Straßenbau in Belgien? Aus dem Lautsprecher tröpfelten Nachrichten: Göring war gefangen, in Böhmen und Kurland hatten die letzten Deutschen kapituliert. Suppe-Empfang für die Gruppen 342 bis 350, Tee-Ausgabe für die Gruppen 167 bis 178. Nürnberger trafen Landsleute siebzehn Uhr an der Baracke zwo.
Sie waren beschissen worden, so hörte er es rechts und links, waren schwer angeschissen worden, von wegen neue Waffen, gleich nach Stalingrad hätte Hitler aufgeben sollen. Sie alle fühlten sich als Opfer von Hitler, Göring, Goebbels ab Stalingrad, die Zeit davor ließen sie im dunkel. Ihre Taten ließen sie im Vergessen und ihren Anteil am Krieg, sie zogen nicht einmal diesen Krieg in Zweifel, sie hatten Schuldige gefunden und fühlten sich als die armen Schweine, die nun im Dreck lagen. Die Amis mit ihrer Übermacht, für die war es ja kein Kunststück gewesen. Und der Iwan, hundert T 34 gegen einen Tigerpanzer. Nun mußten sie die Scheiße ausbaden. Ihnen sollte keiner wieder kommen. Friedfertig fühlten sie sich von einem Tag auf den anderen, Lämmer, nun sollte der Ami sie mal schnell nach Hause zu ihren Frauen und an ihre Arbeit lassen, aufzubauen gab es ja wahrlich genug. Die Feldwebel und Unteroffiziere redeten mild daher, kümmerten sich: Immer wieder versuchen, den Darm zu leeren! Und wenn es noch so weh tat, und wenn bloß ein paar Bröckchen kämen; wer sich da gehen ließ, bekam nach einer Woche den Brand. Gerecht verteilten sie die Suppe und das Scheibchen Büchsenfleisch – sie hätten es als unfair empfunden, hätte man sie an verflossene Schikane erinnert.
Mann an Mann lagen sie, allmählich verdichteten sich die Gerüchte: Wer aus der amerikanischen Zone stammte, wurde bald heimgeschickt, bei den anderen dauerte es etwas länger. Nun floß schon täglich Tee und alle zwei Tage Suppe. Wenn es dunkelte, wenn alle Geräusche erstarben, spielte ein lieber musikalischer Deutscher auf der Trompete: »Guten Abend, gute Nacht!«
Da lagen sie nun, die Panzerschützen mit einst stolzen Abschüssen, Partisanenjäger aus bosnischen Bergen, Dörferverbrenner aus der Ukraine, treffsichere MG-Schützen des Frankreichfeldzugs, Verminer von allerlei Rückzugsstraßen, »Guten Abend, gute Nacht, mit Rosen bedacht«. Da dachten sie sehnsüchtig an ihre Kinder daheim, requiriertüchtige Feldköche aus dänischen Radarstellungen, lämmerfleischschätzende Zahlmeister aus der griechischen Etappe, Brückensprenger, Panzerfäustler, Träger des Deutschen Kreuzes in Gold und diverser Nahkampfspangen, mit denen sich brüsten durfte, der das Weiße in Augen des feindlichen Polen, Franzosen, Briten, Serben, Griechen, Russen, Amerikaners gesehen hatte, »mit Näglein besteckt«, da lagen sie in ihren Tarnjacken und Feldblusen, Leningradbeschießer und Krimschildträger, »von Englein bewacht, sie zeigen im Traum dir Christkindleins Baum«, Feldgendarmen auf allen Straßen und Bahnhöfen, Durchhalteartikler der Propagandakompanien, Fahrradschwadroneure der ersten Vormärsche, Coventrybombardierer, Sonderführer für den Großviehabtrieb aus Bjelorußland, »schlupf unter die Deck«, Stukaflieger, Ortskommandanten und Judenregistrierer aus Lettland, sie alle hatten Begriffe wie Schienenwolf, Werwolf, Wolfsschanze, Verbrannte Erde, Brückenkopf, Kopfschuß, Flammenwerfer, Kettenkrad und Panzerschreck total vergessen, nun ruhten sie hier und lauschten deutschen Tönen, »morgen früh, wenn Gott will«, waffenlos waren sie, leider verlaust, was hielt man sie denn hier noch fest, wo daheim die traute Frau und die lieben Kinder nun schon so lange sehnsüchtig warteten, »wirst du wihihider geweckt.«
Stefan Heym läßt in seinem Roman »Kreuzfahrer von heute« eine Amerikanerin sagen: »Ich hab ja keine große Ahnung, wie diese Deutschen als Eroberer waren, aber in ihre Rolle als Besiegte passen sie sich großartig ein.« Wenigstens: L. hatte keine Kerbe im Kolben.
Nach zwei Wochen, als er durch die Entlassungsmaschinerie geschleust wurde, nannte er doch seinen Namen. Zuerst mußte er den linken Arm heben, auf daß keine Blutgruppen-Bezeichnung darunterstünde, das hätte ihn als Waffen-SS-Mann entlarvt, vielleicht als Überlebenden der Division »Hitlerjugend« – fühlte er sich wenigstens demütig durch einschlägige Erinnerung? Vor einem Offizier nannte er Namen und Geburtsort, denn nach Mittweida wollte er ja unters elterliche Dach und nicht als Graf Möllenbrock oder Kurt Schulze ein ungefähres Leben beginnen; die Gefahr bayernweiter Werwolf-Fahndung erachtete er in dieser Stunde der Heimatsehnsucht gering. Sein Soldbuch wäre ihm in der Minute der Gefangennahme weggenommen worden, behauptete er, einer gewissen Kampfgruppe Köhler, hinhaltend tätig im Fichtelgebirge, hätte er angehört und wäre schlichter Gefreiter der Wehrmacht gewesen, nichts sonst. Mittweida? Da horchte der Offizier auf, der erst mit Fangfragen vertrackte SS-Zugehörigkeit hatte aufspüren wollen, Mittweida, was gäbe es da wohl? Das Technikum!, und die Miene des Amerikaners hellte sich auf. Vielleicht hatte dieser Mann selbst dort studiert, vielleicht ein Verwandter, denn Emigrant mußte er wohl sein; jedenfalls war er wie ausgewechselt. Wenn L. nicht auf dem Technikum gewesen wäre, wo dann? Der Offizier ließ sich schildern, was L. gelernt hatte – Englisch auch? Ein Entlassungsformular schob er über den Tisch, und der Heimkehrer in spe las und übersetzte: I hereby certify to the best of my knowledge and belief the particulars given above are true. Seinen geschwärzten rechten Daumen rollte er übers Papier, der Schreiber am Fenster grinste über das putzige Englisch, das dieser German boy da sprach. Der Überprüfungsoffizier schrieb den Namen Loest in eine Liste. Dahinter waren zwei Spalten, über denen stand »SS« und »okay«. L. war okay.
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