Christian würde aus der Bettlerin keine Bürgerin machen. So weit kam es noch! Er würde ihr einen eigenen Bürgen geben. So würde sie ungehindert die Tore passieren können. Und da fiel ihm wohl zum allerersten Male auf, dass er nicht viel über sein Mädchen wusste, nicht die Herkunft, nicht das Gewerk des Vaters. Christian war sich nicht sicher, ob es ihm behagte, nichts über seine Kleine zu wissen. Dennoch hatte er das anfangs recht reizvoll gefunden.
Er erklärte dem Sekretarius sein Anliegen. Der seufzte, als beschäftigte er sich den ganzen Tag schon mit nichts anderem als dem Problem, das die Stadträte frisch aus der Taufe gehoben hatten. Jeder dumpe Bauer, der die Stadt passieren wollte, brauchte nun einen Bürgen und sei es ein befreundeter Kaufmann oder eine wohlgesonnene Dame. „Selbst unser Doktor Joppener bürgt für die Wehmutter, damit sie vor den Toren die Kindlein auf diese beschissene Welt holen kann.“ Der Beamte schüttelt den Kopf. „Dabei gibt es der Bettler und Gesindel genug. Die brauchen sich nicht auch noch zu vermehren!“
Christian mischte sich nicht in die schlechte Laune des anderen ein, setzte den Namen des Mädchens auf das Papier und seinen eigenen als Bürgen daneben.
„Kenn ich nicht, wer ist das?“, ächzte der Sekretär mit Blick auf den Mädchennamen, gab aber dem Schriftstück ein Wachssiegel.
„Meine Nichte, angeheiratet. Nicht Blutslinie.“
Der Sekretär ließ einen knarzenden Laut hören und widmete sich schon der nächsten Schreibarbeit. Christian war froh, nicht weiter zu diesem Mädchen befragt zu werden.
Sie gab sich Mühe an diesem Abend. Das musste ihr Christian lassen. Sie war erpicht auf das Stück Papier, das auf dem Tischchen neben dem Bett lag. Sie ging nicht bis zum Äußersten, aber das hatte Christian auch nicht erwartet. Sie war keine Dirne. Sie war ein junges Ding, das noch nie zuvor mit einem Mann zusammen gewesen war. Sie verwöhnte ihn aufs Trefflichste, das keinen Wunsch offen ließ. Noch vor der Sperrstunde verließ sie mitsamt dem Papier sein Haus.
Es brauchte seine liebe Zeit, bis sie aus der Stadt heraus war. Die Wächter würdigten das kostbare Papier nur eines flüchtigen Blickes, worüber sich das Mädchen ein bisschen ärgerte, nach all der Mühe.
Als die junge Frau vor einiger Zeit von Christian Vollhardt angesprochen worden war, hatte sie geglaubt in einen tiefen Abgrund gestoßen zu werden, aus dem sie nie wieder herauskommen würde. Nach so kurzer Zeit schon, eine Bürgschaft in der Hand, zahlte sich das sündhafte Arrangement aus. Und so lange er sich mit ihren Lippen und ihren Händen zufriedengab, würde sie vom Sündenpfuhl nicht verschluckt werden. Wie lange sie ihn noch hinhalten würde können, wusste sie allerdings nicht.
Deshalb versteht der Papst unter dem vollkommenen Erlass aller Strafen nicht alle überhaupt, sondern nur den Erlass der von ihm selbst auferlegten Strafen.
Reinhilde verlangte einen starken Eintopf und wünschte denselben auf zweierlei Weise zu kochen: eine Hälfte wie üblich in der Fastenzeit mit ein bisschen Fisch darin, die andere Hälfte mit Fleisch. Während sie das anwies, schlürfte sie den Kräutersud gegen das Kopfdrücken, den ihr Katharina mitgegeben hatte. „Unser Herr wird das verzeihen“, pustete die Brauerin in ihren Becher. Sie meinte die Fleischeinlage. „Eine ordentliche Suppe vom Federvieh. Hörst du Mädchen?“ Elsa nickte. „Und dass du dich nicht erwischen lässt!“ Reinhilde wedelte den Dampf über dem Becher fort, gab das heiße Gebräu auf und verschwand nach oben in die Dachkammer.
Später, zum Mittagsmahl, als Elsa die Fischsuppe in die Wohnhalle zur Tafel brachte, war Reinhilde immer noch nicht zurück. Der Brauer, der der guten Speise wohlgesonnen war, rümpfte angewidert die Nase, als Elsa den Topfdeckel lüpfte und ihm der säuerliche Dampf entgegenschlug. „Draußen riecht es nach Hühnersuppe und drinnen stinkt es nach Fisch?“ Die Faust mit dem Zinnlöffel darin prallte auf den Tisch. Elsas Herz sprang ihr fast aus dem Hals. Peternelle, die eben noch das Brot geschnitten hatte, ließ das Messer sinken und schaute zwischen Elsa und dem Brauer hin und her.
Gunnar, der seinem Vater ergeben war, erhob sich von der Tafel und stapfte geradewegs nach nebenan in die Küche. Er kam mit dem Zeugnis des Verbotenen zurück. Ein paar der Hühnerknochen, die Elsa im Schweinekübel hatte verschwinden lassen, schwenkte er siegessicher wie eine Fahne hoch erhoben und merkte nicht, wie kleine Fitzelchen davon auf sein Barett fielen.
Der Tylike starrte die abgeschälte Hühnerkeule an. Als Nächstes Elsa und zum Schluss schenkte er dem Hausaltar mit dem bronzenen Kruzifix und dem hölzernen Laurentius, Schutzpatron der Briuwer, und den flackernden Kerzen in den vergoldeten Kandelabern einen leidenden Blick. Die Empörung und die Wut, von der Tylike beseelt war, mündeten in dem Hieb, den er Elsa gegen die Wange verpasste. Sie verlor das Gleichgewicht. „Spottest du unserem Herrn und unseren Geboten?“
Elsa schüttelte den Kopf. Sie versuchte sich aufzurappeln, aber ihr war ganz schwindelig. Sie blieb auf dem kalten harten Steinboden liegen.
„Es scheint ganz so!“ Mit einem Satz war der Mann über Elsa, zerrte sie auf die Beine und erhob abermals die Hand. „Willst du den Zorn des Herrn über uns bringen?“ Er holte aus, seine Handbewegung aber fror ein, weil metallenes Klirren in den Raum brach, gefolgt von der Stimme seiner Frau: „Lass uns Essen, Mann.“
Tylike senkte die Hand neben die Naht seiner Beinlinge.
Nicht er, wie es üblich war, sondern Reinhilde hob zum Tischgebet an. Sie vermengte das Gegrüßet seist du Maria mit dem Tischgebet. Elsa stutzte und obwohl ihre Wange brannte, der Stoff ihres Ärmels, den sie dagegen presste, kratzte und die Tränen hinter ihren Augen bissen, fasste sie klare Gedanken und wusste, Reinhilde schloss den heimlich Einquartierten in ihr Gebet ein. „Bitte für uns, heilige Maria, Muttergottes, tritt als Mutter vor den Herrn und …“
„Das reicht, Weib!“ Tylike schob sein „Amen“ hinterher und bekreuzigte sich. Er brach ein Stück vom Fladen. Die Fischsuppe rührte er aus Protest nicht an. Die Briu soff der Baron vom Bierfass, sodass ihm ein Rinnsal aus dem Mundwinkel über die beiden Kinne perlte.
Elsa, die, wie es üblich war, neben Peternelle am hinteren Ende der Tafel, nahe der Tür zur Küche saß und als Letzte, aber immerhin noch vor den Schweinen in die Schüsseln langen durfte, beobachtete die Hausherrin, die das Kreuzzeichen ganz langsam über Stirn, Herz und Schultern strich und die Hände dann wieder im Schoß faltete. Seit sie sich die Bürde auf den Dachboden geladen hatte, rührte sie die Speisen kaum mehr an.
„Dein Fasten läutert ihn auch nicht“, gab der Brauer missmutig zu verstehen. Verhuschte Blicke hin zu Peternelle. Die aber fügte Tylikes Worte nicht zusammen, sondern titschte das Brot in die Suppe, dass es schmatzende Geräusche von sich gab. Die Anspannung zwischen den Brauersleuten war für Elsa Genugtuung. Sie mochte nicht abwägen, was besser tat: die Abscheu gegen den Mann oder die Schadenfreude gegen die Frau, die, wer weiß wie lange noch, verheimlichen konnte, dass sie ihren geächteten Sohn unter dem Dach versteckte.
Tylike ließ sich von der Hühnersuppe auftischen. „Das Fastengebot hast du gebrochen, nicht ich! Du hast die Suppe kochen lassen.“ Sein Löffelzeig wanderte weiter zu Elsa. „Und du hast sie zubereitet!“
Elsa nickte. „Verzeiht.“
Etwas Unverständliches murrte Reinhilde und hob die Tafel auf. Peternelle war die Erste, die mit ein paar Scherben aus der Wohnhalle verschwand.
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