„Ich habe ihn gepflegt …“
„Gepflegt? Dass ich nicht lache.“ Er beugte sich vor und saß wie zum Sprung auf der Sofakante. „Gepflegt hast du vielleicht deine Fingernägel. Nichts hast du für ihn getan. Du hast ihm die notwendige medizinische Pflege verweigert, hast ihn verhungern und verdursten lassen. Dafür habe ich Beweise!“
Sie beugte sich ebenfalls vor und giftete zurück: „Die möchte ich sehen.“
„Das wirst du auch.“
„Moment!“, fuhr Rieder mit lauter Stimme dazwischen. Die beiden verstummten und starrten ihn an. „Könnten wir uns vielleicht alle ein wenig zurücknehmen.“ Sohn und Witwe lehnten sich zurück, verschränkten die Arme vor der Brust und starrten sich hasserfüllt an. Rieder sah sich um, holte sich einen Stuhl und setzte sich wie ein Schiedsrichter zwischen die beiden. Damp stellte sich hinter ihn. Schweißtropfen hatten sich auf seiner Stirn gebildet. Rieder holte aus der Brusttasche seiner Jacke einen Block und einen Stift. Er klickte die Miene des Kugelschreibers raus.
„Wenn ich meinen Kollegen Damp richtig verstanden habe, haben Sie beide“, Rieder schaute erst die Frau, dann den Mann an, „also, Sie haben beide Zweifel am natürlichen Tod von Werner Gilde. Ist das richtig?“
Martina Gilde und Richard Schlick nickten jeweils kurz.
„Gut.“ Rieder notierte sich etwas. Dann wandte er sich an die Witwe. „Wann ist denn Ihr Mann, Herr Gilde, gestorben?“
„Vor fünf Tagen. Und er ist schuld.“ Sie deutete mit einer heftigen Kopfbewegung auf Richard Schlick. „Er war am Samstagnachmittag bei ihm, und als ich wenig später bei Werner vorbeischaute, atmete er nicht mehr. Er war tot. Er hat ihn umgebracht!“ Sie zog ein Taschentuch aus der Ritze der Polster des Sofas und schnäuzte sich damit laut. Dann schien sie ein paar Tränen in ihren Augen zu trocknen und verwischte ihre Lidschatten.
„Wann genau haben Sie den Toten aufgefunden?“
„Wie gesagt, Samstag. So gegen sieben Uhr. Abends.“
„Wo waren Sie davor?“
„Was hat das mit dem Tod meines Mannes zu tun?“
„Wir müssen die Umstände des Todes Ihres Mannes genau rekonstruieren. Dazu gehört auch, wer sich wann wo aufgehalten hat“, erklärte Rieder betont gelassen. „Also?“
„Ich war auf der Insel unterwegs.“
Schlick lachte auf. „Du hast dich wahrscheinlich mit deinem Lover getroffen, während Werner hier verreckte.“
Rieder hob ein wenig seine rechte Hand. „Herr Schlick. Sie sind noch nicht dran. Vielleicht wäre es besser, wenn wir Sie getrennt voneinander vernehmen.“
„Ich will hören, was die Schl…“, Schlick verstummte, als er den strafenden Blick des Polizisten sah.
„Herr Damp, würden Sie bitte Herrn Schlick …“
Damp setzte seine Mütze auf und wollte schon Schlick bitten, aufzustehen. Da winkte Schlick ab. „Schon gut. Ich sage nichts mehr.“
Rieder wandte sich wieder an die Frau. „Können Sie mir vielleicht genauer sagen, wann Sie das Haus verlassen haben und wo Sie waren?“
Martina Gilde strich ihre Haare hinter das rechte Ohr. Ein Ohrsticker blitzte auf. Rieder hatte zwar keine Ahnung von Schmuck, aber der eingefasste Stein musste teuer gewesen sein. „Ich bin kurz vor zwei hier weg. Der Herr Sohn“, erklärte sie hämisch, „wollte mit der Fähre halb eins von Schaprode nach Kloster kommen. Ob dem so war, kann ich nicht sagen.“
„Und dann?“, hakte Rieder nach.
„Ich war in ein paar Geschäften in Vitte und Kloster. Viel hat ja noch nicht auf. Später war ich dann noch im Hochland spazieren. Ich musste mal raus. Außerdem wollte ich ihm nicht begegnen.“
„Ich war jeden Samstagnachmittag bei meinem Vater“, erklärte Richard Schlick. „Am Samstag fand ich Werner in einem bedauernswerten Zustand. Er hatte nichts zu trinken. Wahrscheinlich wollte sie ihn verdursten lassen …“
Martina Gilde stöhnte auf. „So ein Quatsch. Er konnte sich kaum noch bewegen, und mit seinem Tattrich hätte er jedes Glas umgekippt, oder es wäre ihm aus der Hand gefallen. Glauben Sie ihm nur nicht, was er behauptet, Herr Kommissar. Die Pflegeschwester oder ich haben ihn immer mit allem versorgt, was er brauchte.“
Richard Schlick schüttelte heftig den Kopf, sagte aber nichts.
„Also zurück zum Samstag“, versuchte Rieder die Befragung voranzubringen. „Sie kamen gegen sieben nach Hause und fanden Ihren Mann tot auf.“
„Ja, genau. Er hat ihn erstickt oder vergiftet“, brauste sie erneut auf. „Er will doch nur die Firma an sich raffen.“
„Zu möglichen Motiven kommen wir später. Und was haben Sie dann gemacht? Sie haben doch sicher einen Arzt verständigt, der den Tod bestätigt hat?“
„Ich habe die Pflegerin geholt. Sie hat sich um alles gekümmert.“
„Die Pflegerin? Und warum keinen Arzt?“
„Dass Werner tot war, habe ich selbst gesehen. Ich war so geschockt.“ Sie tupfte mit dem Taschentuch erneut ihre Wangen trocken. „Er war am Vormittag noch so lebendig gewesen.“
„So lebendig!“, mischte sich Schlick jetzt doch ein. „Er war schon halbtot, als ich kam. Ich habe ihm ein Glas Wasser geholt und ihm zu trinken gegeben. Da erwachten seine Lebensgeister wieder etwas. Die Pflegerin hatte mich schon ein paar Tage vorher ins Vertrauen gezogen und gebeten, etwas zu tun, ihn in ein Pflegeheim zu verlegen, weil sie dir nicht getraut hat und sich Sorgen gemacht hat.“
„Du spinnst doch.“
„Wer ist diese Pflegerin?“, ging Rieder dazwischen.
„Anna Rese“, antworteten beide zugleich.
Rieder drehte sich zu Damp um. „Hausärztlicher Pflegedienst“, klärte ihn sein Kollege auf.
„Hat die Pflegerin einen Arzt geholt? Es musste doch ein Totenschein ausgestellt werden.“
„Ja, hat sie.“
„Kann ich den Totenschein mal sehen?“
Martina Gilde stand auf und verschwand aus dem Zimmer. Als sie draußen war, beugte sich Schlick etwas vor. „Ich habe Beweise, dass sie dafür gesorgt hat, dass Werner sterben musste. Das ist Totschlag. Mindestens.“
Rieder beugte sich auch vor. „Vielleicht aber auch nur unterlassene Hilfeleistung. Kommt auf die Beweise an. Also, was haben Sie gegen Frau Gilde in der Hand?“
Statt zu antworten, legte Schlick den Finger auf den Mund. Martina Gilde kehrte ins Zimmer zurück. Sie reichte Rieder den Totenschein. Der Polizist überflog das Formular und gab es Damp. Am 30. März, 20.45 Uhr, hatte Dr. Möselbeck den Tod von Werner Gilde festgestellt. Todesursache: Herzversagen. Möselbeck war ein verantwortungsvoller Arzt. Mehrfach hatte Rieder erlebt, wie er bei ungeklärten Todesfällen auf der Insel das Ausstellen eines Totenscheins verweigert und stattdessen eine Autopsie durch die Rechtsmedizin in Greifswald angeordnet hatte. Meistens zu Recht.
„Um die Todesursache zu überprüfen, müsste eine Exhumierung mit anschließender Obduktion durch die Staatsanwaltschaft angeordnet werden“, klärte Rieder die Hinterbliebenen auf. „Dafür müssen aber triftige Gründe vorliegen. Ich kann sie aufgrund des Totenscheins nicht erkennen. Sie können natürlich Anzeige erstatten, und wir müssten dann Ermittlungen aufnehmen, die Ergebnisse der Staatsanwaltschaft übergeben, und die entscheiden dann …“
„Ich dachte, dazu sind Sie hier“, erwiderte die Witwe.
Rieder schaute zu Schlick. Der nickte. „Gut, dann werden wir jetzt Ihre Anzeigen aufnehmen.“ Er bat Damp, den Polizeilaptop aus dem Auto zu holen. Damp eilte hinaus.
Während Rieder mit Martina Gilde und Richard Schlick schweigend auf die Rückkehr Damps wartete, stand er auf und betrachtete näher die Bilder im Raum. Eines der Porträts zeigte einen jungen Mann. Er hatte einen runden, fast kahlen Kopf. Seine Augen blickten ernst. Zu seinem dunklen Anzug trug er eine Fliege. Rieder fielen besonders die Hände auf mit ungewöhnlich langen, feingliedrigen Fingern. Trotz des strengen Blicks wirkte der Mann gelangweilt. Auch dieses Bild war von Elisabeth Büchsel signiert. „Das ist mein Vater“, klärte Richard Schlick die Polizisten auf. „Das Bild ist in den frühen fünfziger Jahren entstanden, nachdem er die Firma übernommen hatte.“
Читать дальше