Mrs. Holt stürzte herbei. Ihre Augen funkelten zornig. Sie packte Danielle am Arm und zerrte sie aus dem Kino. »Komm sofort mit. Du auch, Collister!«
Danielle protestierte, doch es half nichts. Shannon schleifte ihre Tochter mit sich, wie einen Sack Kartoffeln. Mason folgte mit einigem Abstand. In der Eingangshalle gelang es Danielle schließlich, sich von ihrer Mutter zu lösen. Sie betrachtete ihren Ellbogen, der knallrot war.
»Du wirst dich ab sofort von diesem Jungen fernhalten!«, schrie Danielles Mum.
»Ich bestimme meine Freunde selbst, das sagte ich dir ja bereits«, erwiderte Danielle.
»Oh nein, junge Dame. So nicht!« Shannon packte ihre Tochter erneut und zog sie zur Ausgangstür. »Ab sofort wirst du auf unbestimmte Zeit nicht mehr zum Reiten gehen. Du hast außerdem Hausarrest.«
»Mum …«, wollte Danielle einwerfen, aber Shannon zerrte sie zur Tür hinaus. »Wenn du dich mir noch einmal widersetzt, werde ich dich zu Brandon nach Harvard schicken!« Sie verschwand mit Danielle in der Dunkelheit. Mason lief langsam hinterher und sah den beiden nach.
Es regnete mittlerweile. Mrs. Holt hielt ihre Handtasche als Schutz über den Kopf und eilte zum Wagen. Danielle blickte über ihre Schulter zurück zu Mason. Sie warf ihm einen mitleidigen Blick zu, wollte noch etwas sagen, aber ihre Mutter war derart in Rage, dass Danielle nicht mehr zu Wort kam. Eine Limousine fuhr vor. George stieg aus und hielt die Tür auf, ohne eine Miene wegen Shannons Gekeife zu verziehen. Die Schimpftiraden von Shannon Holt verstummten erst, als George die Autotüren schloss.
Und wie komme ich jetzt heim? Mason blickte dem davonfahrenden Auto hinterher und empfand Mitleid für Danielle. Sie saß echt in einem goldenen Käfig.
Mason seufzte und drehte sich zu einem der Türsteher um. »Können Sie mir vielleicht ein Taxi rufen?«
»Ich fürchte nicht, Sir, aber in der Eingangshalle ist ein Telefon, das Sie gerne benutzen dürfen. Gleich neben der Glasvitrine.«
»Danke.«
Mason lief zurück ins Haus. Es war sehr ruhig geworden. Die Gäste waren vermutlich im Kino und schauten den angekündigten Film. Vorausgesetzt Mrs. Snyder hatte sich wieder einigermaßen in den Griff bekommen. Er blickte sich kurz um und sah das Telefon. Es war einer dieser auf nostalgisch gemachten Apparate mit Wählscheibe und Kabel. Lustig. Mason nahm den Hörer in die Hand. Wie war noch gleich die Adresse dieses Schuppens? Er hätte besser aufpassen sollen, statt zu überlegen, wie die Leute hier auf ihn reagieren würden. Während er nachdachte, fiel sein Blick auf die Glasvitrine, vor der er vorhin mit Danielle gestanden hatte. Er betrachtete noch einmal voller Sehnsucht die Sportpokale und wählte die Vermittlung.
»Vermittlung, was kann ich für Sie tun?«
»Äh, Hi. Ich bin …« Und dann sah er etwas anderes, das ihm vorhin gar nicht aufgefallen war. »Hat sich erledigt, danke.« Er legte den Hörer zurück auf die Gabel und lief zur Vitrine. In der hinteren Reihe, leicht verdeckt von einem Foto und einem goldenen Pokal über einen gewonnenen Cup, lag eine Filmdose. War die schon vorhin da gewesen?
Mason blickte sich kurz um, ob ihn jemand beobachtete. Die Türsteher scherten sich nicht um ihn und starrten nach draußen, und von den anderen Gästen war ebenfalls nichts zu sehen. Er öffnete die Vitrine und zog die Filmdose heraus. »September bis Oktober 1984.« Fast hätte er sie wieder fallen lassen. »Das gibt’s ja nicht.« Rasch schob er die Dose unter sein Hemd, schloss die Vitrine und rannte hinaus in den Regen.
*
»Autsch«, sagte Randy und drückte den Eisbeutel auf die Nase. Zum Glück war nichts gebrochen und die Blutung hatte rasch aufgehört. Hoffentlich gab es keine Schwellung, sonst hätte er einiges an Erklärungsbedarf, wenn seine Tante am Wochenende von ihrer Schulung zurückkam.
Die beiden Jungen, die sich mit Luka und Dorian vorgestellt hatten, hatten Olivia und Randy durch ein kleines Wäldchen geführt. Es war ziemlich gruselig gewesen, zwei Fremden durch die Dunkelheit zu folgen, doch warum sollten sie sie erst retten, um ihnen dann etwas anzutun? Randy hatte die ganze Zeit über Olivia nicht aus den Augen gelassen. Sie folgte ihm, die Kameratasche fest an ihren Oberkörper gepresst. Er hatte das Klirren vorhin gehört. Vermutlich war einiges zu Bruch gegangen. Objektive waren empfindlich.
Schließlich gelangten sie mit ihren beiden Rettern an eine kleine Wohnwagensiedlung. Diese war mit Maschendraht eingezäunt. Es gab einen Eingang, an dem ein junger Mann, vermutlich um die zwanzig, Wache hielt. Dorian sprach mit dem Wachposten und deutete dabei immer auf Olivia und Randy. Schließlich ließ er sie passieren. Randy und Olivia folgten den beiden Jungs durch die Wohnwagen. In einigen brannte noch Licht, aus einem der Fenster linste eine ältere Frau, und irgendwo in der Dunkelheit bellte ein Hund.
Dorian und Luka führten sie zu einem dunkelblauen Wohnwagen, bei dem bereits die Farbe abblätterte. Dorian öffnete, schaltete das Licht an und ging zum Eisschrank, während der jüngere der beiden, Luka, sich sofort daran machte, Tee zu kochen.
Jetzt saß Randy da, das Eis auf die pochende Nase gedrückt und hoffte, dass der Schmerz bald nachlassen würde.
Luka reichte Olivia eine dampfende Tasse Tee. Sie nahm sie dankend an und setzte sich auf einen Holzstuhl an der gegenüberliegenden Wand. Die Kameratasche stellte sie daneben ab.
»Hast du mal reingeschaut?«, erkundigte Randy sich.
Sie nickte. »Die Kamera ist hin, genau wie das Objektiv.«
»Das tut mir leid, Olivia. Ehrlich.«
»Tja, und mir erst. Die ganze Aktion umsonst.« Sie fuhr sich durchs Gesicht und sagte noch etwas wie: »Miete zurückzahlen … wir landen alle auf der Straße …«, aber so genau konnte Randy es nicht verstehen.
»Ich könnte mir die Kamera mal ansehen. Vielleicht kann ich sie reparieren.«
Olivia blickte zu ihm hinüber. Ihre Schultern waren eingefallen, ihre Augen, die normalerweise wach und aufmerksam wirkten, waren glanzlos und trübe. »Selbst wenn du das schaffst, die Speicherkarte ist total nass geworden. Die Bilder von heute Abend sind sicherlich futsch, genau wie das Objektiv, das ich …« Olivia biss auf ihre Lippen und drehte den Kopf weg. Sie wischte sich rasch über die Augen, als wollte sie unter allen Umständen vermeiden, vor Randy zu heulen. »Das ist eine Katastrophe«, flüsterte sie.
»Hier«, sagte Luka und trat zwischen Randy und Olivia. Er lächelte Randy an und hielt ein Fläschchen in der Hand. »Das sind Bachblüten. Damit wirst du keine Schwellung bekommen.«
Randy zog die Augenbrauen hoch. Bachblüten. Na klar. »Du weißt aber schon, dass der Wirkstoff darin so stark verdünnt wird, dass er gar nicht helfen kann? Das ist ungefähr genauso, wie wenn ich Hustensaft in einen See kippe und dann einige Schlucke daraus trinke.«
Luka grinste. Ein Eckzahn hing auf Halbmast und würde sich bestimmt demnächst verabschieden, die beiden vorderen fehlten bereits und die neuen schoben nach. »Wenn sie angeblich nicht wirken, können sie nicht schaden. Nimm.«
Randy rollte die Augen. Er hielt nichts von dem ganzen homöopathischen Krimskrams, aber er wollte auch nicht unhöflich sein. Er nahm das Fläschchen von Luka und drehte es auf. Im Deckel war eine Pipette angebracht.
»Einfach auf die Zunge träufeln«, sagte Luka zufrieden. »Fünf Tropfen.«
»In Ordnung.«
Olivia trank einen weiteren Schluck Tee. »Der ist sehr lecker, was ist da drin?«
»Melisse, Baldrianwurzeln, Lavendelblüten, Kamille, Hopfen, Ringelblumenblüten, Schafgarbenkraut, Anis, Kümmel, Rosmarinblätter«, sagte Dorian und lächelte. »Und noch einige Spezialkräuter meiner Tante Albertha. Es beruhigt die Nerven.«
Olivia sah in die Tasse und nickte. »Danke.«
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