Sawyer zuckte zusammen und machte unwillkürlich einen Schritt zurück. Offenbar war er überrascht von ihrer heftigen Reaktion. »Ich habe doch nur gesagt …«
»Wir wissen, was du meinst«, sagte Battle leise. »Deine Frage ist auch durchaus berechtigt, Sawyer. Wir könnten vom sprichwörtlichen Regen in die Traufe kommen. Aber hier können wir auch kein gutes Leben führen.«
Sawyers Blick wanderte zwischen seiner Mutter und Battle hin und her. »Warum nicht?«
Battle hatte keine Antwort darauf. Er hatte keine Ahnung, wie er einem Dreizehnjährigen erklären sollte, warum sie nicht bei den Dwellern im Canyon bleiben konnten. Aber er wusste instinktiv, dass dies nicht der richtige Ort für sie war.
Battle hatte schon oft in ähnlichen Umgebungen gelebt … in Widerstandsnestern, die versuchten, mächtige Despoten zu stürzen. Wenn der Aufstand scheiterte, starben sie alle oder sie vegetierten in Todesangst vor sich hin, und das unter Bedingungen, die tausendmal schlechter waren als die, unter denen sie zuvor gelebt hatten. In den Fällen, in denen sie den meist knappen Sieg davontrugen, mussten die Aufständischen anschließend einen vollkommen kaputten Staat regieren. Bestenfalls gelang es ihnen, eine dünne Decke der Zivilisation und Ordnung über ein gesetzloses Land zu legen. Im schlimmsten Fall brachte das durch den Aufstand entstandene Machtvakuum neue, noch gewalttätigere Fraktionen hervor, die daraufhin erneut bis aufs Blut um die Herrschaft kämpften. Am besten befanden sie sich daher nicht auf der Südseite des Walls, wenn einiges davon oder all das hier eintrat.
Battle trat zu Sawyer und legte dem Jungen die Hände auf die Schultern. »Wir können hier nicht leben«, sagte er. »Wir können es einfach nicht.«
25. Oktober 2037, 13:45 Uhr
Jahr fünf nach dem Ausbruch
Houston, Texas
Ana wiegte ihre Tochter tröstend auf dem Schaukelstuhl vor und zurück und ihre Zehen rollten auf dem kalten Holzboden auf und ab. Anas Bluse war aufgeknöpft. Sie war gerade fertig geworden mit dem Stillen und das Baby griff jetzt nach ihrem offenstehenden Kragen. Das kleine Mädchen gab leise gurrende Laute von sich und machte ein Bäuerchen in den Nacken ihrer Mutter.
Ana schloss die Augen, während sie ihr Kind schaukelte. Vor und zurück. Vor und zurück. Die Bewegung beruhigte das Baby. Für die Mutter fühlte es sich eher wie ein Äquivalent der Unruhe an, so als liefe sie ängstlich auf und ab. Erneut flutete Bedauern ihre Gedanken.
Sie hätte sich niemals den Dwellern anschließen dürfen. Sie hätte niemals zustimmen sollen, das zu tun, was jetzt von ihr verlangt wurde. Sie hätte dieses Kind niemals bekommen dürfen.
Eine Welle von Schuldgefühlen überschwemmte sie, als dieser letzte Gedanke sich immer tiefer in ihrem Kopf festsetzte. Sie nahm ihre Hand vom Rücken des Babys und streichelte sanft das kleine Köpfchen. Ihr schwarzes Haar war so unglaublich weich. Es war lockig und wuchs schon über ihren gesamten Kopf. Ana kuschelte mit ihrem Mädchen und inhalierte tief ihren Duft, bevor sie ihr einen Kuss direkt hinter das Ohr gab.
Das Kind hieß Penny. Sie begann bereits Beziehungen zu Personen aufzubauen, Wörter und Sätze zu verstehen und sie nachzuplappern. Ana wusste, dass es nur noch ein paar Wochen dauern würde, bis Penny die ersten Laufversuche starten würde. Sie zog sich bereits von Tisch zu Tisch, von Stuhl zu Stuhl.
Sie schlug die anderen Menschen genauso schnell in ihren Bann wie ihre Mutter. Sie hatte große, einladende braune Augen und hellbraune Haut. Jeder, der sie sah, fühlte sich sofort zu ihr hingezogen, als würde ihre Aura sie einladen.
Ana war mit der gleichen Gabe gesegnet – oder vielleicht auch verflucht. Denn diese Gabe war der Grund, weshalb die Dweller sie überhaupt angeworben hatten. Sie wussten, dass sie für die Aufgabe, die sie ihr gegeben hatten, wie geschaffen war. Sie würde Erfolg haben, hatten sie ihr gesagt.
Bisher war das schon mehr der Fall, als ihr lieb war.
Sie hob Penny von einer Schulter zur anderen und streichelte ihr sanft über den Rücken, bis sie spürte, dass ihre Tochter eingeschlafen war. Pennys Kopf ruhte nun an ihrer Schulter und mit einem leisen Schnarchen kitzelte ihr Atem ihre Mutter jedes Mal, wenn sie ausatmete.
Ana hörte auf, sie zu wiegen, und versuchte mit einer Hand ihre Bluse zuzuknöpfen, ohne Penny dabei zu wecken. Sie hatte drei Knöpfe geschafft, als eine Stimme in der Tür sie erschreckte.
»Meinetwegen musst du dir die Bluse nicht zuknöpfen«, sagte der große, wettergegerbte Mann, der im Türrahmen lehnte. Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus und er zwinkerte ihr anzüglich zu.
Beim Klang seiner Stimme zuckte Ana unwillkürlich zusammen und schaffte es gerade noch, das Baby nicht zu wecken. Sie hielt einen Zeigefinger an die Lippen. »Wann bist du nach Hause gekommen?«, flüsterte sie.
Der Mann betrat das Kinderzimmer, als ob es ihm gehörte. Was ja eigentlich tatsächlich der Fall war. Seine Stiefel stampften über den Boden, als er auf Ana und Penny zuging. Er erreichte den Schaukelstuhl und streichelte dem Baby über den Kopf.
»Sie schläft«, sagte Ana. »Es kommt nicht mehr oft vor, dass sie ein Mittagsschläfchen hält. Sie wird langsam zu groß dafür.«
Die Hand des Mannes wanderte zu Anas Gesicht und er berührte ihre Wange. Er ragte hoch über ihr auf, das Kinn auf seine Brust gepresst. Wortlos blickte er auf sie herab. Er schob seine Hand in ihre offene Bluse und fuhr mit seinen Fingern über ihren Körper. Seine regungslosen Augen fixierten die ihren.
»Warum bist du schon zu Hause?«, drängte ihn Ana. Sie wagte es nicht, seine Hand zu entfernen.
Der Mann nahm seine Finger aber jetzt zu Glück von ihrer Haut und hob einen an seine Lippen. Er deutete auf das Kinderbettchen, bevor er nach dem Mädchen griff. Er nahm Penny, wiegte sie kurz, küsste sie auf die Stirn und ließ sie dann langsam in ihr Bett sinken. Anschließend sah er zurück zu Ana und nickte in Richtung Tür.
Ana stand vom Schaukelstuhl auf und knöpfte ihre Bluse zu. Auf Zehenspitzen verließ sie den Raum und begab sich zu ihrem Mann in das Zimmer, das er gern den Entspannungsraum nannte. Er lag bereits in seinem abgenutzten Sessel und hatte seine Füße auf den gepolsterten Hocker gelegt. Seine Arme ruhten auf den breiten Lehnen des Sessels. Sie setzte sich ihm gegenüber auf das kleine Sofa.
In das ausgesprochen maskuline Dekor des Raumes, das von einem Hirschgeweih über dem Gaskamin komplettiert wurde, hatte er sich schon verliebt, als sie das erste Mal die große Stadtvilla betreten hatten. Das Haus gehörte zu den am besten erhaltenen Gebäuden, die noch in der Nähe der ehemaligen Innenstadt von Houston standen. Es lag nördlich des zentralen Geschäftsviertels, das sie Midtown nannten.
Er hatte das Haus ausgewählt und sogar eine andere Familie daraus verjagt, als Ana eingewilligt hatte, bei ihm einzuziehen. Sie hatte keine Wahl gehabt, denn sie hatte bereits sein Kind in sich getragen, und dass sie zusammenzogen, war Teil des Plans gewesen.
»Was gibt es zu Mittag?«, fragte er. »Machst du mir etwas Feines in der Mikrowelle?«
»Der Strom ist leider wieder ausgefallen«, sagte sie. »Wann bist du nach Hause gekommen?«
»Das Gas sollte aber funktionieren«, sagte er. »Du könntest mir ja eine Maissuppe kochen.«
Ana fuhr sich mit den Fingern durch ihr welliges schwarzes Haar. »Ich habe schon etwas Eintopf im Kühlschrank«, sagte sie. »Den sollte ich wahrscheinlich erst einmal warm machen, denn sonst wird er schlecht, wenn wir ihn jetzt nicht essen.«
Er runzelte die Stirn. »Na gut.« Mit einem Wink scheuchte er sie in die Küche.
Ana zwang sich, aufzustehen. »Wann bist du nach Hause gekommen? Ich habe dich schon mehrmals …«
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