Mit Übereifer stach er in den Überzug, das Messer glitt ab und er schnitt sich tief hinein, quer über die ganze Handfläche. Während er das Messer fallen ließ und über Gott und die Welt zu fluchen begann, sprangen seine Mitarbeiter entsetzt herbei, jemand schrie nach einem Sanitäter, ein anderer nach einem Arzt. Gestützt von seinen Helfern verließ Moiş das Zimmer und kehrte erst nach einer Viertelstunde zurück, sichtlich bemüht, einen gefassten und heroischen Eindruck zu machen. In der Zwischenzeit hatten andere Neugierige den Spiegel untersucht, unter dem Tuchüberzug aber lediglich einige Lagen Krepppapier gefunden, sonst nichts. Zumindest gab Moiş es jetzt auf und sagte: „Jetzt ist Schluss, bringt ihn in eine Zelle, und morgen sprechen wir weiter.“ Dieses „morgen“ war freilich etwas unklar, denn es war ja schon längst der nächste Tag, der 14. September, angebrochen. Zum Abschied verpasste er mir noch einen mächtigen Fußtritt in meinen linken Oberschenkel, den ich noch lange spüren sollte.
Es war bestimmt schon 3 oder 4 Uhr morgens, als ich mit der Blechbrille auf den Augen in den Keller des gleichen Hauses geführt wurde. Nach dem man mir die Brille abgenommen hatte, fand ich mich in einer Zelle von etwa vier Meter Länge und zwei Meter Breite wieder. Ein kleines stark vergittertes Fenster mit Milchglas spendete zwar Licht, aber keine Luft. In der Zelle standen zwei Betten, jedes mit Strohsack, Decke und Kissen ausgestattet – sonst nichts. Ich legte mich sofort nieder, denn ich fühlte mich wie gerädert und war unendlich müde, fand vorerst jedoch noch keinen Schlaf. Ich war zu aufgewühlt, tausend Gedanken gingen mir durch den Kopf. Die Frage war: Wie konnte es sein, dass die Securitate schon so viel über unsere Organisation wusste? Gab es Verrat? Es war nicht auszuschließen.
In Bezug auf Egon und auch Jakob etwa habe ich mich gründlich geirrt, denn beide standen bereits auf der Liste der Geheimpolizei, als ich noch hoffte, sie aufgrund ihrer schon länger währenden Abwesenheit von Temeschburg heraushalten zu können. Sie waren nämlich zum Antritt ihrer Tätigkeit als Turnlehrer schon nach Cugir beziehungsweise nach Carei – beides Orte in Siebenbürgen – abgereist. Dort wurden sie jedoch nicht gleich verhaftet, sondern standen zehn bis zwölf Tage unter Beobachtung, vermutlich weil man sehen wollte, ob sie an ihren neuen Standorten ihre geheimen politischen Aktivitäten fortsetzen. Im Nachhinein erinnerte sich Jakob, wie man ihn etwa eine Woche vor seiner Verhaftung in die Kanzlei der Schule rief, wo er von zwei jungen Männern erwartet wurde, die seine Meinung über die Erziehung „im sozialistischen Sinne“ an der Schule hören wollten. Er erklärte damals, dass er erst seit zu kurzer Zeit an dieser Schule wäre, um über eine so wichtige Angelegenheit eine kompetente Meinung äußern zu können. Das ganze Auftreten der beiden „Inspektoren“ ebenso wie ihre jugendliche Erscheinung machte ihn stutzig, ohne dass er sich jedoch einen Reim auf ihre Absichten hätte machen können. Auch bei einem Schülerball, veranstaltet einige Tage nach dem seltsamen Besuch, fielen ihm mehrere Typen auf, über die er später erfuhr, dass sie sich nach den neuen Lehrkräften der Schule erkundigt hätten.
Weder Jakob noch Egon wussten zu diesem Zeitpunkt etwas von unserer Verhaftung, und erst nachdem am 24. September unsere ehemalige Schulkollegin Martha Bozoki ebenfalls in Carei ankam, erfuhr Jakob von unserer Festnahme und auch, dass Andreas schwer verwundet in einem Krankenhaus lag. In Temeschburg war das Gerücht in Umlauf, dass es bei unserer Verhaftung einen Kampf mit Toten und Verletzten gegeben habe. Martha berichtete auch von zahlreichen Verhaftungen und Vernehmungen von Schülern und Professoren, die es in diesem Zusammenhang gegeben hatte. Als Jakob dies hörte, war ihm sofort klar, dass auch ihm größte Gefahr drohte, und er packte noch am gleichen Abend seinen Rucksack mit dem Notwendigsten, um am kommenden Tag Carei in Richtung der ungarischen Grenze zu verlassen und die Flucht in den Westen zu versuchen. Er kam aber nicht mehr dazu, denn noch in der gleichen Nacht wurde er verhaftet. Es konnte nie geklärt werden, ob die Verhaftung kurz nach der Ankunft Marthas reiner Zufall war oder ob sie missbraucht wurde, um Jakobs Reaktion auf die überbrachten Nachrichten zu prüfen. Zur selben Zeit wurde auch Egon Zirkl in Cugir festgesetzt, was wir ebenfalls erst erfuhren, als wir alle zusammen in der Haftanstalt in Temeschburg waren.
In meiner Zelle bei der Securitate hatte mich irgendwann meine unsägliche Müdigkeit doch übermannt und in einen unruhigen Schlaf sinken lassen, aus dem ich erst erwachte, als der Riegel der Tür geräuschvoll zurückgeschlagen wurde und ein bulliger Feldwebel erschien. Er reichte mir ein Kännchen Muckefuck und befahl mir, mein Bett zu machen, also die Decke über das Bett zu breiten. Nach zehn Minuten kam er wieder, verpasste mir die Blechbrille und führte mich etwa zehn Schritt weit in einen Raum mit Wasserhahn und einem sogenannten türkischen WC. Nachdem ich fertig war, ging es – wieder mit Brille – zurück in die Zelle.
Etwa um 10 Uhr kam der Feldwebel wieder und führte mich durch den Vorraum in einen zweiten, von wo es dann vier bis fünf Treppen hinunterging. Es folgte ein ziemlich enger Tunnel, der weniger als einen Meter breit, aber mindestens 15 Meter lang war, und am Ende waren wieder vier bis fünf Treppen, die nach oben führten. Dieser war einer jener drei Tunnel, die schon 1948 gebaut wurden, das heißt im ersten Jahr der Inbesitznahme der drei Villen, die gemeinsam den Gebäudekomplex der Securitate bildeten sollten. Als Schüler der gegenüberliegenden Schule hatte Herbert Winkler schon im Sommer 1948 aus seinem Klassenzimmer im zweiten Obergeschoss die Bauarbeiten im Hof der Geheimpolizei, die ansonsten wegen des schon hochgezogenen gemauerten Zaunes von der Straße nicht sichtbar waren, genau verfolgen können, ohne zu ahnen, dass nur drei Jahre später auch er durch diese unterirdischen Gänge geführt werden sollte. Ich vermutete, dass sich meine Zelle im Keller des gewesenen deutschen Konsulats befand und dass ich jetzt im Keller der Villa Rieger angelangt war. In dem mir seit dem Herbst 1945 bekannten Treppenhaus erkannte ich die abgenutzten Stufen trotz der Blechbrille.
Im ersten Stock wurde eine Tür geöffnet, und mein Begleiter, der bullige Feldwebel, schob mich in einen Raum. Als man mir die Brille abnahm, stand ich in einem länglichen Zimmer, dessen verhangene Fenster in Richtung Konsulatsgebäude zeigten. Hier wartete ein Offizier in Uniform, ein Oberleutnant. Zu meiner Überraschung stellte er sich als Ernst Deitel vor und sagte: „Ich bin der Chef-Vernehmer und werde euren Fall untersuchen.“ Ich bekam einen Bogen Papier, Feder und Tinte. Dann begann er zu fragen, und ich musste antworten und die Antwort sogleich niederschreiben. Bei der Formulierung meiner Antworten ergaben sich oft Probleme, denn er beanstandete deren Form und ich merkte, dass er versuchte, meine Formulierungen zu unseren Ungunsten zu ändern. Das wollte ich nicht akzeptieren, was zu Streit und seinerseits zu Drohungen führte, ohne dass er sich jedoch solch ordinärer Schimpfworte bediente wie vor ihm Moiş. Um eine Zeit kam ein weiterer Offizier herein, den ich noch nicht kannte, setzte sich auf einen Stuhl und hörte vorerst zu. Als ihn Deitel anredete, erfuhr ich, dass er Neda hieß. Erst sehr viel später, 1975, erfuhr ich seinen Vornamen, Octavian, und dass er aus der Gegend von Oraviţa im Banat stammte.
Zusätzlich zu den schon in der Nacht beim Verhör genannten Kameraden kamen noch Edi und Herbert dazu. Ich weiß nicht mehr, wie die Rede auf die beiden kam, jedenfalls wusste die Securitate bereits, dass sie zur Organisation gehörten, und ich gab zu, dass Edi mit Harry gemeinsam Flugblätter verteilt, und auch, dass ich Herbert kleinere Aufträge erteilt hatte. Ich war entschlossen, so weit als möglich keine weiteren Personen – Mitglieder wie auch Mitwisser – preiszugeben. Insbesondere dachte ich dabei an Leute wie Edda Konrad, Eugen Warga, Walter Heinrich, Albert Milles und weitere Freunde und Bekannte, die, wenn schon nicht Mitglieder, doch Förderer unserer Organisation waren. Ebenso Hans Portscheller, ein Freund und Landsmann Jakobs und, ohne es zu wissen, Aufnahmekandidat der Organisation. Durch seine Teilnahme an der Aktion gegen den russischen Militärklub am Begaufer hatte er seine „Eintrittsprüfung“ bestanden, war jedoch schon vor unserer Verhaftung in den Bărăgan verschleppt worden.
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