»Nur zu hoffen, dass uns der Russe nicht dazwischenfunkt«, meinte Stamm. »Die augenblickliche Ruhe kommt mir verdächtig vor.«
Doch die Ruhe hielt an. Ungestört machte die Kompanie sich marschbereit.
Warten und Stillstehen in unklarer Lage bringen den Soldaten aus dem Gleichgewicht, das er braucht, um standhalten zu können. Zudem saß der alten Mannschaft noch die Erinnerung an die Stützpunktstrategie des vergangenen Winters in den Knochen. Zu viele waren »verheizt« worden, nur weil von oben die Beweglichkeit der Kampfführung nach dem Rezept »Bleib, wo du stehst!« unterbunden worden war. Der Befehl zum Abrücken jedoch, gleichviel wohin, gab der absinkenden Stimmung neuen Schwung und Auftrieb.
Wenn ich allerdings damals, am Morgen jenes 20. November, geahnt hätte, welches Riesenausmaß an starrsinniger Borniertheit dem großen Plan zu Grunde lag, dem sich alle beugten, würde ich mich nicht dazu bereitgefunden haben, das Vertrauen meiner Soldaten zu missbrauchen. Ich hätte, anstatt nach Osten zum Don zu marschieren, den Weg nach Westen zum Tschir eingeschlagen, und vielleicht hätten wir sogar der dritten Kompanie beistehen können, die verschwand, ohne eine Spur zu hinterlassen – wie meine Störungssucher, wie der Kradmelder des Bataillons. Ich ahnte nicht einmal, dass wir nicht die Einzigen waren, die den Marschbefehl nach Osten erhalten hatten, dass alles, was westlich des Don im großen Flussbogen stand, Kampftruppen und Trosse, Deutsche und Rumänen, zersplittert und vereinzelt unter dem gleichen Befehl den Donübergängen zustrebte, die noch nicht in der Hand des Russen waren.
Nach einer Stunde stand die Kompanie marschbereit. Die vorhandene Munition und die Verpflegungsration, die wir erst zwei Tage zuvor empfangen hatten, sowie der allernötigste Papierkram wie die Wehrpässe und die Stammrollenauszüge waren auf die drei Trosswagen verteilt worden, die mit je zwei Pferden bespannt waren. Die übrigen Wagen, für die es keine Gespanne gab, waren mit Handgranaten gesprengt worden. Auch das gesamte Gepäck blieb als überzähliger Ballast zurück. Wir hatten es auf einen Haufen geworfen, mit Benzin überschüttet und angezündet.
Ich ging noch einmal in mein Quartier und gab der alten Babuschka zum Abschied die Hand.
»Russki ssjuda?«, fragte ich.
»Da, da«, sagte sie strahlend und lachte mit offenem Mund, so dass die zahnlosen Kiefer sichtbar wurden. »Germanski kaputt – kaputt – kaputt!«
Die Kompanie rückte ab. Der Panzer, der zuletzt die Sicherung am Nordrand des Dorfes übernommen hatte, setzte sich an die Spitze und bahnte den Weg durch den Schnee.
Der Flockenfall hatte nachgelassen. Der scharfe Nordostwind, der sich im Laufe der Nacht gelegt hatte, frischte wieder auf. Die Temperatur sank im Nu. Der Frost biss die Nässe aus dem Schnee, so dass er locker und pulvrig wurde. Der Wind jagte ihn hoch und trieb ihn in Wolken vor sich her.
Im Rücken, zur Linken und weiter entfernt zur Rechten rumpelte von Zeit zu Zeit Artilleriefeuer. Es galt wohl den Inseln, die sich mitten im durchbrechenden Feind noch hielten, von kleinen Gruppen verzweifelter Kämpfer verteidigt, die der allgemeine Rückzugsbefehl nicht erreicht hatte, oder die sich nicht hatten lösen können.
Der mit Schneezeichen markierte Weg nach Nordosten, an den wir uns hielten, mündete bald auf eine der zum Don führenden Rollbahnen. Schon aus einiger Entfernung hatten wir marschierende Kolonnen beobachtet. Um sicher zu gehen, dass wir nicht unversehens an den Feind gerieten wie die Panzerkompanie von Unteroffizier Kurz, die am Abend auf dem Marsch von vierzig T 34 angegriffen worden war, schickte ich unseren stählernen Begleiter zur Erkundung voraus. Die Kompanie wartete im Schutz eines Fichtenwäldchens, wie sie in der Nähe des Dons häufig anzutreffen sind.
Der Panzer kehrte bald zurück.
»Wie bei Napoleon anno 1812«, berichtete der offenbar geschichtskundige Panzerführer. »Die reinste Lumpensammlung, und zwischendurch immer wieder mal ein zackiger Haufen wie der Ihre, Herr Leutnant.«
»Vielen Dank für die Blumen«, sagte ich. »Sind’s nun eigentlich Rumänen oder sind’s Deutsche?«
»Alles kunterbunt durcheinander«, antwortete Unteroffizier Kurz, »sogar gefangene Russen sind dabei. Und alle haben es eilig. Ich habe mit einem Hauptmann gesprochen. Er sagt, der Russe drückt nach. Mit dem Plunder, der an den Straßenrändern liegt, könnte man eine Altwarenhandlung aufmachen. Die meisten haben anscheinend nichts anderes im Sinn, als rasch hinter den Don zu kommen. Es heißt, der Russe ist gerade dabei, hinter uns zuzumachen.«
»Ist ja reizend«, sagte ich. »Kommt denn da niemand auf den genialen Einfall, dass sich das alles in verkehrter Richtung bewegen könnte?«
»Wieso denn das, Herr Leutnant?«, widersprach Unteroffizier Kurz, der am Einstieg seines Panzers hockte. »Alles in bester Ordnung. Ich sage Ihnen, das gibt ein ganz großes Ding. Man lockt die Russen heraus. Wird ohnehin alles sein, was sie noch haben. Und wenn die ganze Rote Armee schön dicht versammelt ist, kommt der Doppelstoß von Osten und von Westen, und der Krieg ist aus.«
»Kurz«, sagte ich, »Sie haben Ihren Beruf verfehlt, Sie hätten Feldmarschall werden sollen.«
»Na, wir werden ja sehen, Herr Leutnant«, meinte der Unteroffizier, den die Vernichtung seiner Kompanie nicht im Mindesten zu berühren schien, als seien es die Niederlagen, die erst die Voraussetzung schüfen für den Sieg, von dem er träumte.
Ich wollte den Traum nicht zerstören und gab den Befehl zum Weitermarsch.
Die Rollbahn, als wir sie wenig später erreichten, war heillos verstopft. In Doppelreihe stauten sich Fahrzeuge, Fußtruppen und kleine Pulks berittener Rumänen.
Von Nordwesten kam Gefechtslärm. Demnach wurde also nicht nur marschiert, sondern auch noch gekämpft.
Endlich kam die Stockung in Fluss. Die Kompanie fädelte sich ein, indem wir einfach die Straße sperrten und alles, was nachdrängen wollte, aufhielten.
Wo bleiben nur die Russenflieger?, fragte ich mich. Mit ein paar gut gezielten Reihenwürfen hätten sie aus allem, was sich auf der Rollbahn nach Osten bewegte, Hackepeter machen können.
Heute weiß ich, was der Russe wollte. Er wollte möglichst alles im Sack haben. Vielleicht war es ihm darum zu tun, einer staunenden Welt zu zeigen, dass er noch längst nicht fertig war, wie Hitler seit dem Herbst 1941 in Aufrufen und Reden immer wieder verkündete.
Im Schutz der dichten Nebeldecke, die lange Zeit über den weiten Steppen des Dongebietes lag, hatte die Rote Armee genügend Kräfte versammelt, um zum großen entscheidenden Schlag auszuholen. Mit umgekehrten Vorzeichen unternahm sie das Gleiche, was wir ihr im Mai 42 zugefügt hatten. Unsere Division schirmte damals bei Bjelgorod ab und fing den Stoß auf, der zur Umfassung der Stadt Charkow von Norden her führen sollte. Im Süden von Charkow, in dem ausgedehnten Frontvorsprung, den die Winteroffensive der russischen Südarmeen ausgebeult hatte, standen unter dem Oberbefehl des Marschalls Timoschenko Angriffsverbände in der Stärke von 250 000 Mann bereit. Damals stießen unsere Panzer aus dem Donezbecken nach Nordwesten vor, riegelten den Donez entlang ab und schufen damit die Voraussetzung für die Sondermeldung des OKW, die unter Fanfarengeschmetter die Vernichtung der Timoschenko-Armeen bekannt gab.
Wenn ich an Stalingrad denke, fallen mir immer wieder Vaters Worte ein. Es war im Oktober 1925, wenige Wochen, bevor er an den Folgen seiner Verwundungen aus dem 1. Weltkrieg starb. Ich schob ihn wie täglich, wenn das Wetter es zuließ, auf dem Rollstuhl durch die Anlagen unserer Stadt.
»Falls es mal dazu kommen sollte, dass du in den Krieg musst«, sagte er, »dann vergiss nie: auch der Gegner entwirft Pläne. Auch drüben auf der anderen Seite gibt es denkende Köpfe. Wer annimmt, dass drüben nur Idioten sitzen, hat schon verloren. Nur derjenige, der sich in die Lage des Feindes versetzen und mögliche Gegenzüge voraussehen kann, hat im Krieg eine Chance.«
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