Die – zugegeben etwas abstrakte – Formulierung von einem „Leben-lassen, das schlimmer wäre als Den-Tod-geben“, könnte, ohne dass es da die geringste Symmetrie gäbe, auch den Blick freigeben auf das Problem der Sterbehilfe [ euthanasie ], das heute, wie Sie wissen, neue Aktualität erfährt, in den Vereinigten Staaten und in Europa. Letztes Jahr haben wir dieses Wort, „ euthanasie “ 47, bisweilen gepaart mit dem Wort „Anästhesie“, häufig verwendet, um all die Diskurse oder Behauptungen in Bezug auf eine Abmilderung, eine Abschwächung der Grausamkeit und eine Humanisierung der Hinrichtung, der Weisen der Tötung in Anwendung der Todesstrafe zu bezeichnen: die tödliche Injektion von Gift anstelle des Elektrischen Stuhls oder des Hängens, und auch schon die Guillotine, die von Dr. Guillotin als schmerzlos und beinahe den Genuss einer leichten Kühle am Nacken verschaffend präsentiert wurde. 48Heute, in einem viel engeren Sinne, betrifft die juristische Frage der Sterbehilfe [ euthanasie ] das Recht, zu töten, den Tod zu beschleunigen (aber jeder Mord besteht darin, einen Tod zu beschleunigen, der für all die zum Tode Verurteilten, die wir sind, in jedem Falle unvermeidlich ist), das Recht also, zu töten, indem man den Tod von mutmaßlich unheilbaren Patienten beschleunigt, deren Leiden danach verlangt, angesichts dessen die Patienten bisweilen selbst danach verlangen, dass es ein Ende nehme, dieses Leiden. Eine Sterbehilfe, bei der es schwierig ist, die Handlung [ acte ], den Handelnden [ agent ] und den Moment strikt auf der Linie einer unteilbaren Grenze zu definieren (die nicht spürbare Steigerung einer Dosis Morphium auf Verlangen oder ohne explizites Verlangen eines Patienten kann diese Schwelle überschreiten, ohne dass irgendjemand dafür die Verantwortung eines Mordes im eigentlichen Sinne übernehmen müsste),
eine Sterbehilfe, die bekanntlich tatsächlich öfter praktiziert wird, als man in den Krankenhäusern und anderswo vermeldet,
eine Sterbehilfe, die im Prinzip sowohl der dem Arzt durch den Hippokratischen Eid obliegenden Pflicht (zu heilen, zu retten, die Gesundheit wiederherzustellen, sich in den Dienst des Lebens und nicht des Todes zu stellen) als auch den Geboten der abrahamitischen Religionen widerspricht,
eine Sterbehilfe, über die von den Familien im Falle von alten Menschen leichter zu entscheiden ist als im Falle von Kindern, Jugendlichen oder jungen Erwachsenen,
eine Sterbehilfe, deren Begriff ebenfalls einigen grundsätzlichen Fragen, insbesondere psychoanalytischer Art, schwer standhielte (dem Anderen dabei helfen, gut zu sterben; sich selbst dabei helfen, den eigenen Tod gut zu sterben. Wo fängt das an? Wo hört das auf?),
eine Sterbehilfe schließlich, die in den Vereinigten Staaten zu heftigen Debatten Anlass gibt, insbesondere am Beispiel eines Arztes, der zugibt und für sich in Anspruch nimmt, Sterbehilfe geleistet zu haben und in der Zukunft weiterhin die Verantwortung dafür übernehmen zu wollen,
eine Sterbehilfe, die letzte Woche in Holland unter bestimmten Bedingungen legalisiert wurde. 49
So viele Fragen, die von derselben Problematik des Akts, des Alters und des Begehrens herrühren.
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Diese drei Flugdrachen/Hirschkäfer [ cerfs-volants ] beziehungsweise diese drei Fragen, die auf den Flügeln eines mehr oder weniger fliegenden [ volant ] und mehr oder weniger langsamen [ lent ] Flugdrachens/Hirschkäfers eingeschrieben sind, werden weiterhin über unseren Köpfen in der Luft schweben. Wir halten ihre Schnur 50fest, aber wir ziehen heute nicht weiter an dieser Schnur. (Hier innehalten? 51)
Heute, und darüber hinaus, werden wir etwas anderes [ autre chose ] versuchen, dieselbe Sache [ la même chose ], aber etwas anderes oder dasselbe anders.
Wir werden versuchen, das, was man die Todesstrafe nennt, in eine neue Perspektive zu rücken.
Auf die Erde zurückkehrend, werden wir versuchen, die Ausgangspunkte und Annäherungsbewegungen zu vervielfachen, so als hofften wir, die Angriffswinkel mehr denn je dissoziierend und diversifizierend, noch irgendeinen vitalen Kern der Frage einkreisen zu können.
Seien Sie also auf eine Reihe von multilateralen Vorstößen gefasst, über die Flügel, so als würden unterschiedliche Armeen unter mehr oder weniger einheitlichem Kommando über unterschiedliche Wege und Stellen vorrücken, auf den Flügeln und nahe dem mutmaßlichen Zentrum der Entscheidung, unterschiedliche Strategien, um den befestigten Ort des Feindes zu umzingeln, zu investir im eigentlich strategischen Sinne des Wortes 52, vorausgesetzt, dass es ein solches Zentrum überhaupt gibt, und ebenfalls vorausgesetzt, dass wir hier die Todesstrafe als den Feind anprangern, den es zu neutralisieren, zu analysieren, zu paralysieren, zu entwaffnen, zu verwirren gilt. Warum sollte man all diese Vorrückbewegungen, wenn man sie beschreiben will, mit Flügeln vergleichen, mit den Flügeln einer Flugmaschine oder mit den Flügeln einer Fußballmannschaft oder vor allem mit den Flügeln einer Armee auf dem Marsch, um einen Ort zu umzingeln? Warum diese kriegstechnische Rhetorik und diese Strategenfiguren? Ich werde gleich dazu kommen.
Denn es ist nicht sicher, dass es ein Problem der Todesstrafe, ein einziges und selbes Problem gibt, das unter diesem Namen identifizierbar wäre. Dieser Name, dieser Titel, die Todesstrafe, verbirgt vielleicht eine nicht zu vereinheitlichende Vielzahl von Begriffen und Fragen. Wir dürften das nie ausschließen. Es hat sogar mächtige Versuche gegeben (die von Marx, von Nietzsche und vielleicht von Freud, mindestens), die uns auch weiterhin interessieren werden, und auf die wir noch zurückkommen werden, [mächtige Versuche], die im eigentlichen Sinne juristische, gesetzliche, strafrechtliche und staatliche Dimension der Todesstrafe, ihre Spezifität also abdriften zu lassen und von Kräften, von Trieben abzuleiten, die zumindest archaischer, tiefreichender, allgemeiner, älter, auf alle Fälle entscheidender wären (psychische, ökonomische, politische usw.), zu deren Nutzen das Gesetzes-Dispositiv und die juristische, ja staatsrechtliche, ja sogar die ethische Problematik der sogenannten Todesstrafe funktionieren würde. Man müsste also neu verwurzeln, was abgedriftet ist, müsste die sogenannte strafrechtliche und juristische Frage der Todesstrafe, ihre gesetzliche und staatliche Dimension nach hinten zurück führen, hin zu grundsätzlicheren und entscheidenderen Prozessen (psychischen, politisch-ökonomischen, sozialen, usw.). Ein im Grunde genommen klassischer Gestus, um eine angebliche Autonomie des Juridischen oder, in noch stärkerem Maße, des Juristischen anzuprangern. Letztes Jahr hatten wir also begonnen, diese Logik durch Lektüren von Marx, Nietzsche und anderen hindurch zu betrachten, und wir werden es weiterhin tun. Für den Augenblick möchte ich, nur für einen Anfang, festhalten, dass der erste Effekt dieser Logik darin bestehen kann, zu bestreiten, dass es da eine Einheit, eine irreduzible Spezifität der Todesstrafe gibt, dass es ein Problem oder eine einzige strikt identifizierbare Problematik der Todesstrafe gibt. Indem wir diesen möglichen Einwand berücksichtigen, wird unsere einzige und jedenfalls erste Sorge darin bestehen, diese scheinbare Spezifität, diesen Anschein oder diesen Effekt der Spezifität ernst zu nehmen, die Art und Weise, in der die Todesstrafe unter ihrem Namen als Spezifitätseffekt besteht und uns heute weiterhin als solche umtreibt, unter immer brennenderen, dramatischeren, dringlicheren, bisweilen unerträglichen Bedingungen. Wie könnte es sein, dass eine kollektive Tötungserfahrung nur einen Anschein von Spezifität, nur einen Effekt von Einheitlichkeit besitzt?
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