Nun noch das Spielzeug. Cousine Mimi Bär war vorstehende Schwester der Kinderstation im Krankenhause, die konnte dergleichen immer brauchen. Mimi war erfreut, als Agathe ankam, und forderte sie auf, ihre Gaben selbst unter die Kleinen zu verteilen. Wenn’s nun auch nicht die eigenen sein konnten – es kam doch so jedenfalls Kindern zu gute. In dem großen, geweißten Saal saßen oder lagen sie reihenweise in ihren eisernen Gitterbettchen, armselige Geschöpfe, manche mit Gazeverbänden um die kleinen Köpfe, von Skropheln und Ausschlag entstellt oder von Fieber verzehrt, mit gereiftem, leidendem Ausdruck in den blassen Gesichtchen. Aber alles war hell und sauber, die Bettchen so schneeig – es machte doch einen traulichen Eindruck. Als Schwester Mimi eintrat, wendeten sich alle die Köpfchen ihr zu. Ungeduldige Stimmchen riefen ihren Namen. Sie ging von Reihe zu Reihe, mit einem behaglichen Frohsinn aus ihren großen Zügen unter der steifgestärkten Haube. Sie scherzte hier, strafte lustig dort – Agathe beneidete sie als friedliche Herrscherin hier in diesem Reich der Krankheit und des Todes.
Sich überwinden – glücklich sein mit anderen – bis zur Selbstvergessenheit – bis zur Selbstvernichtung – das ist das Einzige – das Wahre!
Und sie verteilte alle ihre lieben Andenken unter die armen, geplagten Kinder des Volkes, sie spaßte und spielte mit ihnen. Da war ein kleines Mädchen – hässlich wie ein braunes Äffchen, aber voller Lebendigkeit, wie das die arme verblasste Prinzessin Holdewina in ihrem Bettchen Purzelbäume schlagen ließ – nein, das war zu komisch! Agathe verfiel in ein lautes Lachen – sie lachte und lachte …
»Aber Agathe, rege meine Kinder nicht auf«, mahnte die ruhige Mimi. Agathe wollte sich zusammennehmen – die Tränen quollen ihr aus den Augen – das Lachen tat ihr weh, es schüttelte sie wie ein Krampf – die Kleinen blickten furchtsam nach ihr, die Töne, die sie ausstieß, waren fern von Fröhlichkeit.
Mimi nahm sie am Arm und trug sie fast hinaus. Sie öffnete ein Fenster und pflegte Agathe sorgsam und mit Bedacht, bis diese sich endlich beruhigte und zu Tode erschöpft auf Mimis Lager ruhte.
»Armes Kind«, sagte Mimi mit ihrer überlegenen Güte, »Du musst etwas für Dich tun. Du bist sehr überreizt.«
Der Regierungsrat Heidling hörte von allen Seiten, dass seine Tochter sich durchaus eine Erholung gönnen müsse. Er selbst hatte nichts dergleichen bemerkt, sie war ja doch nicht krank und tat ihre Pflicht. Aber da der Hausarzt es auch meinte, so sollte natürlich etwas geschehen. Ihm würde ein wenig Zerstreuung auch wohltätig sein. Er vermisste seine arme Frau mit jedem Tage mehr. Agathe gab sich ja alle Mühe – aber die Frau konnte ihm so ein junges Mädchen ja doch nicht ersetzen. Seine Gewohnheiten waren trostlos gestört.
So reiste er denn mit Agathe nach der Schweiz.
Auf dem Wege besuchten sie Woszenskis für ein paar Stunden. Sie lagen noch, immer in hartem Kampf mit der Tücke, der Hässlichkeit und Dummheit ihrer lebenden und toten Umgebung. Noch immer hinderten boshafte, mit seltsamen Gebrechen des Leibes und Geistes Behaftete Köchinnen Frau von Woszenski am Arbeiten. Noch immer wurden auf dem Kunstmarkt lachende Neger und gut frisierte Jäger mehr begehrt als nackende Anachoreten und ekstatische Nonnen. Noch immer war es ein Leiden, dass Michel nichts essen mochte. Der Blödsinn seiner früheren Gymnasiallehrer wurde aber noch übertroffen von dem Stumpfsinn der Akademieprofessoren, unter denen er jetzt studierte. Noch immer hatte Herr von Woszenski die barocksten Pläne und Einfälle, und noch immer fehlt es ihm an Stimmung zu ihrer Ausführung.
Sein langer Bart und das wirre Haar waren ergraut, die Adlernase trat noch schärfer hervor, die blauen Augen sahen aus tiefen Höhlen schwermütig in die närrische Welt. Mehr als je glich er seinen von wunderlichen Visionen heimgesuchten Anachoreten.
Als Agathe auf dem mit einem verschossenen persischen Teppich bedeckten Divan saß, ihre Blicke über die buntbemalten, steifen Kirchenheiligen, die dunklen Radierungen an den Wänden und die gelben Einbände französischer Romane auf den geschnitzten Stühlen glitten, als sie den scharfen des Terpentin und der ägyptischen Zigaretten in der Wohnung spürte, war es ihr zu Mut, als kehre sie aus einer sehr langen, öden und gehaltlosen Verbannungszeit in ihre Heimat zurück.
Aber es war Torheit, sich dem hinzugeben. Sie musste noch an demselben Abend wieder Abschied nehmen. Und sie konnte so tiefe Empfindungen, wie sie sie einst in diesem Hause durchlebt, jetzt kaum noch in der Erinnerung vertragen.
Sie hörte, dass Adrian Lutz sich verheiratet habe mit ihrer alten Pensionsgefährtin Klotilde, der Tochter des Berliner Schriftstellers. Die Ehe war nicht glücklich, – man sprach bereits von Scheidung. In Agathe regte sich Verachtung und Widerwillen der wohlerzogenen Bürgerstochter gegen das Unsichere, Schweifende solcher Künstlerexistenzen. Eine geschiedene Frau – hätte es so geendet, wenn sie die Seine geworden wäre?
Als Maler habe Lutz bei weitem nicht erreicht, was er einst versprochen. Seine Schülerin, Fräulein von Henning, habe ihn förmlich überholt. »Das heißt – von Geist und Grazie hat die Person ja keinen Schimmer«, sagte Frau von Woszenski. »Aber die Energie! Damit macht sie mehr, als hätte sie Talent! Stellt in Paris im Salon aus …«
»Nun, Talent hat sie doch auch«, meinte Woszenski gütig.
»Ach, mein Mann nimmt’s mit den Damen nicht so genau«, rief Mariechen und lachte scharf und laut.
Agathe bemerkte wohl, dass ihrem Vater die Art von Woszenskis nicht sympathisch war. Wie sollte sie auch.
Sie fragte, was aus dem Bilde geworden sei, an dem Herr von Woszenski damals arbeitete – die Ekstase der Novize. Ob er es verkauft habe.
»Ach, verkauft! Ich arbeite noch daran.«
Er blickte über die Brille nachdenklich auf Agathe.
»Warum habe ich Sie nur damals nicht als Modell genommen?«
Er brachte eine Farbenskizze zu dem neuen Entwurf. Es war im Laufe der Zeit ein völlig anderes Bild geworden.
Statt des himmlischen Sonnensturmwindes, der die üppige rot und goldene Pracht des Hochaltars wirbelnd bewegte und in dem Tausende von Engelsköpfen die niedergesunkene Gottesbraut selig-toll umflatterten, glitt nun ein leichenhaftes, blaues Mondlicht durch den Säulengang eines Klosters. In dem stillen Geisterschein schwebte ein bleiches Kind mit einer Dornenkrone zu ihr hernieder. Die Nonne war nicht mehr das rosige Geschöpf, welches den kleinen Erlöser in ihren Armen empfing und mit unschuldig strahlendem Lächeln an ihr Herz drückte. Im Starrkrampf lag sie am Boden, die Arme steif ausgestreckt, als sei sie ans Kreuz geschlagen – die roten Wundenmale an der blassen Stirn und den wächsernen Händen.
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