»Ich würde mir das schon gerne mal angucken. Tauchen finde ich hochinteressant«, hörte sie noch die gezierte Stimme von Lenka in ihrem Rücken. Falsche Schlange! Ob Edgar Mariella wirklich versprochen hatte, auf Papilopulus’ Weide einen Springplatz anzulegen? Nein, das war ausgeschlossen!
Aber das bohrende Gefühl eines möglichen Verrats begleitete sie auf ihrem Weg zum See.
5. Kapitel
In der Mitte des langgestreckten Stalltraktes führte ein Durchgang direkt in den Schlosspark. Und wie immer, wenn Malu durch diesen Torbogen lief, spürte sie, wie sie ruhiger und entspannter wurde. Es war ein bisschen so, als würde sie eine andere Welt betreten, eine alte, längst vergangene Zeit. Früher war hier eine gepflegte Parkanlage gewesen mit gestutzten Hecken, Blumenrabatten und Kräutergärten. Jetzt wuchs alles wild durcheinander, nur ein schmaler Weg führte durch den verwunschenen Garten. Allerdings hatten sie, seit Mario Scherz seine Tauchschule am See eröffnet hatte, die Büsche rechts und links zurückgeschnitten, um den Durchgang für ihn und seine Tauchschüler zu verbreitern.
Malus Mutter hatte die alte Gartenanlage auch direkt ins Herz geschlossen und, nachdem sie ins Schloss gezogen waren, angefangen die Beete vom Unkraut zu befreien und Büsche und Bäume zu bearbeiten. Obwohl sie das Projekt mit großer Hingabe verfolgte, hatte Malu Mühe irgendwelche Erfolge zu erkennen. Dazu war der Park einfach viel zu groß und zu dicht bewachsen und ihre Mutter hatte zu wenig Zeit. Schließlich hatte sie einen Vollzeitjob im Altenheim und dazu half sie noch dem alten Herrn Müller und Gesine im Haushalt. Und manchmal musste sie sich ja auch um ihre Tochter kümmern und um ihren frisch dazugekommenen Sohn – für Edgar hatte sie seit einem Monat offiziell die Vormundschaft übernommen.
»Gleich haben wir es geschafft, Papi«, sprach sie dem Pferd Mut zu, das mühsam einen Huf vor den anderen setzte. Sie strich ihm sanft über den Nasenrücken und schluckte die Tränen herunter, die ihr in den Augen brannten. »Die doofe Lenka wird sich noch wundern, du wirst mindestens hundert Jahre alt!« Natürlich wusste sie, dass Papilopulus nicht ewig leben würde und dass er schon alt war, aber sie wollte einfach nicht daran denken.
Die Zweige einer riesigen Trauerweide hingen wie ein Zeltdach über der kleinen Wegkreuzung, die die beiden nun passierten. Sie warf einen Blick auf das alte, viktorianisch anmutende Gewächshaus, das im hinteren Teil des Parks aus den Büschen ragte und sah, dass die Tür offen stand. Ob ihre Mutter schon aufgestanden war? Nach dem Nachtdienst schlief sie eigentlich immer bis mittags. Die exotischen Pflanzen, die noch Gesines Vater, der alte Baron von Funkelfeld, im Gewächshaus angepflanzt hatte, hatten es ihrer Mutter besonders angetan. Wann immer Rebecca Baumgarten Zeit fand, verschwand sie in dem Glashaus und wälzte alte Botanikbücher aus der Schlossbibliothek, um die merkwürdigen Pflanzen zu bestimmen, die hier wuchsen. Und tatsächlich hatte sie dabei schon so manchen Schatz gefunden. Na ja – zumindest botanische Schätze.
Malu seufzte und tätschelte gedankenverloren Papilopulus’ Hals. Schöner wäre es gewesen, sie hätte den richtigen Schatz vom Funkelsee gefunden – den sagenumwobenen Familienschatz, den der alte Baron irgendwo versteckt hatte, nachdem er über dem Verlust seiner Tochter Esmeralda den Verstand verloren hatte. Vor ein paar Monaten hatte Malu gedacht, sie hätte ihn auf der Pferdeinsel im Funkelsee gefunden, zusammen mit Edgar und Lea, aber dann war es nur eine alte Puppe gewesen, ein Geburtstagsgeschenk für Gesines Schwester Esmeralda. Kein besonders wertvoller Schatz! Schade, denn den hätte Schloss Funkelfeld wirklich dringend gebraucht. Und obendrein hätten sie dann die Pferde vom alten Stumpe kaufen und damit retten können. Schneechen! Sie mochte gar nicht daran denken, dass ihr wundervolles Geisterpferd zum Schlachter sollte. Wenn es Papilopulus besser ging, musste sie sich unbedingt auf die Suche nach der Schimmelstute machen. Und dann würde sie sie nicht mehr hergeben!
Malu und Papilopulus gingen den Weg weiter, der zum See führte. Bald darauf wichen die Büsche rechts und links zurück und gaben den Blick auf den Funkelsee frei. Die große, weite Wasseroberfläche kräuselte sich leicht im Wind und ein milchiger Dunst lag über dem Wasser, in dem die Schemen der Pferdeinsel zu erkennen waren. Die ersten Blätter der umstehenden Bäume hatten sich schon gelb verfärbt. Nicht mehr lange und der Funkelsee würde orange glühen, wenn sich die ganze Farbenpracht des Waldes in ihm spiegelte. Malu liebte den Herbst, die kühle, klare Luft, das orange-rote Laub und die Ritte über die Stoppelfelder waren sowieso das Allerbeste!
Rot war jetzt vor allem das riesige Zelt der Tauchschule, das Marco und Henri am Bootssteg aufgeschlagen hatten.
In der Nähe des Ufers grasten Rocco und Alibaba, die jetzt die Köpfe hoben, als sie ihren Kollegen bemerkten. Alibaba wieherte leise, um Papilopulus willkommen zu heißen. Doch das alte Pferd war noch zu schwach, um zu antworten und ließ sich von Malu zu den anderen beiden hinüberführen. Sie nahm ihm das Halfter ab und klopfte ihm auf den Hintern. »Das ist erst mal dein neues Zuhause, Papi.«
Kritisch nahm sie die Wiese unter die Lupe, aber zum Glück konnte sie keine der gelben Giftblumen entdecken. Die Pferde waren hier also nicht in Gefahr.
Mario Scherz winkte zu ihr herüber, als er den Weg entlangkam und dann zielstrebig über die Wiese zum neuen Bootsanlegeplatz am See lief. Sein Neffe Henri folgte ihm wenig später. Malu war nicht allzu begeistert gewesen, als Edgar ihr erzählt hatte, dass sich eine Tauchschule auf Schloss Funkelfeld einmieten wollte, und dann auch noch ausgerechnet an ihrem Lieblingsplatz am See! Aber Mario zahlte eine großzügige Miete und das Geld konnten sie gut gebrauchen. Außerdem war er nett und sein Neffe Henri schien ja auch ganz ok zu sein.
Der muskulöse Mann verschwand jetzt in dem roten Zelt, das als Materiallager und Umzugskabine diente. Wer allerdings bei diesem herbstlichen Wetter und der niedrigen Wassertemperatur einen Tauchkurs machen wollte, war Malu schleierhaft. Na ja, vielleicht ihre unnötige Großcousine. Sie hoffte nur, dass ihr dann ein fetter Wels in den Zeh beißen würde!
Sie blieb noch einige Zeit auf der Seewiese und beobachtete Papilopulus. Erst als sie ganz sicher war, dass er wieder einen festen Stand hatte und nicht mehr den Eindruck machte, als würde er jeden Moment zusammensacken, ging sie zum Schloss zurück. Plötzlich knurrte ihr Magen laut und vernehmlich und erinnerte sie daran, dass sie noch gar nicht gefrühstückt hatte.
Als Malu wenig später in die große, geräumige Küche trat, war niemand zu sehen. Das Päckchen, das Edgar heute Morgen bekommen hatte, stand noch auf dem Küchentisch und das Frühstücksgeschirr in der Spüle. Ihre Mutter schlief bestimmt noch. Malu warf einen Blick auf die Uhr, es war ja auch erst kurz vor zwölf. Sie ließ sich erschöpft auf die Küchenbank fallen. Nach ihrem Gefühl waren mindestens zehn Stunden vergangen, seit sie aus der Tür gerannt war, um Papilopulus zu helfen. Was für ein schrecklicher Morgen!
Kraftlos starrte sie vor sich auf den Tisch und überlegte, was sie sich zum Frühstück machen sollte, als ihr Blick magisch von dem Paket angezogen wurde. Was hatte Edgar da wohl bekommen? Neugierig zog sie das Päckchen zu sich heran und spähte hinein. (Wenn er es so offen hier stehen ließ, dann war das ja wohl erlaubt, oder?) Eine Schachtel und ein paar alte Briefumschläge, mehr konnte Malu nicht erkennen, denn in diesem Moment kam ihre Mutter im Morgenmantel die Treppe herunter. Schnell schob Malu den Karton von sich weg und machte ein unschuldiges Gesicht.
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