„Und ich habe dich geliebt, du Mistkerl …“ Sie lachte. „Immerhin habe ich durch dich eine Mission … und nichts mehr zu verlieren. Wenn ich schuld an deinem Tod bin, gewöhne du dich daran, für meinen verantwortlich zu sein!“
Matilde vernahm ein Klopfen. Während sie sich hastig eine Stoffserviette um die Hand wickelte, hörte sie Hans’ vertraute Stimme in ihrem Zimmer: „Ich möchte dir etwas schenken.“ Hans stand am Fenster, wie er es im Zug getan hatte. Bläulich schimmerte seine Haut, als sei er eine aus dem Eis geschlagene Skulptur. „Komm zu mir! Ich will dir etwas zeigen. Komm zu mir … piccola gatta selvatico .“
„Warum, Hans? Warum hast du mir das angetan?“, wimmerte sie. Erneut klopfte es an der Tür. Statt sie zu öffnen, näherte Matilde sich der Gestalt am Fenster.
„Es war der einzige Weg“, entgegnete er. „Hättest du mich bloß sterben lassen, animo mio. Nordgren hat nicht mich gerettet in deinem Abteil. Er hat sich gerettet. Schau aus dem Fenster! Dort ist mein Geschenk. Pass gut darauf auf. Geh morgen spazieren. Der Styggebreen soll zu dieser Jahreszeit sehr schön sein. Geh morgen spazieren! Versprich es mir!“
„Das ergibt keinen Sinn!“, rief sie verzweifelt aus. „Sag mir alles, was du über Nordgren weißt … alles über meine Mission! Ich werde deine Arbeit zu Ende führen, und dann will ich sterben!“ Während sie sprach, bemerkte sie den schwarzen Wolf draußen vor dem Fenster, der sie musterte.
„Pass gut auf ihn auf! Er ist ein Kind der Nacht, aber tagsüber musst du ihn beschützen.“ Plötzlich war Hans verschwunden, und der Wolf setzte in weiten Sprüngen in den Wald davon. Hätte er keine Spuren im Schnee hinterlassen, müsste Matilde an seiner Existenz zweifeln.
Es klopfte ein drittes Mal, diesmal unerbittlich.
*
Dass ich mich weder auf sie selbst noch auf das, was sie gesagt hat, konzentrieren kann, tue ich als Nebenwirkung meines Rausches ab.
Sage: „Hab dich schreien gehört …“, rieche den Alkohol in meinem Atem, atme kürzer … vergeblich. Werde mir erst bewusst, dass ich meinen Revolver in der Hand halte, als ich mit ihm ins Dunkel wedle. „Müssen … müssen uns unterhalten “, stammle ich. Meine Welt dreht sich. Halte mich vorsichtshalber am Rahmen der Tür fest, damit sie nicht aus ihren Angeln gehoben wird.
Matildes Blick ist matt und stumpf. Nicht mehr und nicht weniger als ein Spiegel meiner selbst.
Sie weicht zurück, winkt mich herein, wundert sich dabei genauso wenig über den Revolver wie ich. Banalität meiner Erscheinung.
„Ich habe Besuch gehabt, weißt du?“, meint sie. „Hans war hier. Er hat mich geschlagen und mich geliebt, und wir haben miteinander gesprochen.“ Sie setzt sich auf ihr Bett, das federnd nachgibt, wie es das schon bei zahllosen Träumern zuvor getan hat. „Aus dem Fenster hinaus … in kältester Nacht … seh ich den schwarzen Wolf … in all seiner Pracht“, summt sie, und es klingt wie ein verballhornter Kinderreim. Verbittert: „Nochmal danke für deine Worte, für alles .“
Weiche ihrem Blick aus, lasse mich in einen der Sessel fallen, stöhne: „Meine Worte …“ Mit zusammengekniffenen Augen sehe ich, dass sie ein weißes Stück Papier in ihrer Hand hat. Der Zettel! Sie hat den Zettel gelesen! „Du …“ Schlucke, um den pelzigen Geschmack aus meinem Mund zu verbannen. „Du weißt also von … Paul, hm? Was ich ihm angetan habe. Ich hab dir gesagt, Matilde, dass ich …“ Dieser verdammte Geschmack in meinem Mund! Als wäre er betäubt! „Dass ich kein guter Mensch bin. Aber … du musst mich verstehen …“ Gestikuliere mit der Waffenhand und ziele zufällig in ihre Richtung. „Paul war ein schwacher Mensch . Er musste sterben, bevor die Welt, die er liebte, ihn verschlingen konnte. Er ist aus der Hölle der Wiederholungen ausgebrochen. Das bin ich leider nicht. Nein, Matilde, ich durchlebe sie jeden Tag aufs Neue! Weißt du überhaupt, was das bedeutet ? Hast du die geringste Ahnung?!“ Höher, höher schwingt sich meine Stimme empor, das Totgewicht des Revolvers verankert mich hier unten.
Sie starrt mich an. „Paul? Welcher Paul? Wovon redest du, Rick?“ Sie bewegt sich lebhafter, begreift endlich, dass mein Revolver auf sie zeigt, hebt die Hände. „Seit gestern lese ich es in deinen Augen, Rick. Seitdem wir Nordgren begegnet sind. Du würdest mich gerne umbringen. Aber ich weiß nicht, warum.“ Sie erhebt sich, um vor mir in die Knie zu gehen, meine Beine zu umarmen. „Ich habe eine Aufgabe, Rick. Die muss ich erfüllen. Lass mich die Trolle jagen, dann … dann kannst du mich töten.“
Alles dreht sich, und nichts ergibt mehr Sinn; selbst ich bin mir fremd geworden, bin nicht Rick, nicht Paul, bin nur ein zerbrechliches Gefäß, das angstvoll erkennt, dass sich seine Umwelt immer schneller bewegt. Gefangen in einem Schädel, den weiße Watte auskleidet, in der sich manchmal Schmutz verfängt.
„Willst tatsächlich sterben, was? Unbedingt sterben. Bist eine komische Frau …“ Hebe langsam meinen Arm, presse die Mündung des Revolvers gegen ihre fiebrige Stirn. Ich grinse, ohne beständigen Grund zur Erhabenheit. „Hast Glück … ich habe meinen guten Geschmack seit der Zugfahrt nicht verloren.“ Mir ist plötzlich kalt. „Trolle willst du jagen, Matilde? Schieß so viele von ihnen nieder, wie du nur kannst. Haben dieses verfluchte Leben nicht verdient …“ Stoße Matilde ohne Vorwarnung zurück. Ich throne über ihr, gottgleich und grauenhaft im schummrigen Licht des Hotelzimmers. Meine Stimme klingt hohl, während ich sage: „Ich muss mit dir reden, Matilde. Was schaust du mich so an? Willst du nichts über Paul hören? Paul Anderson ? Wie dieser Tor mich vor die Wahl gestellt hat, und ich ihn ermordete ?“ Atme tief ein, sammle meine letzten Kräfte. „Ich möchte dir die Geschichte eines jungen Mannes erzählen, der tief fiel und dem die Freizügigkeit seines Denkens niemals guttat. Sein Leben war trostlos und einsam und arm an Freude, und die Bücher, die er las, bildeten einen gierigen Sog, dem er schwerlich entrinnen konnte. Oh, er war gewillt, sich zu bessern! Er wollte sein erbärmliches Dasein überwinden und sich … verwandeln ! Er wurde zum Gehilfen eines greisen Buchhändlers namens Sam Whitmore. Wenngleich ein Sonderling, war dieser gütig, doch das kann diese Welt nicht ungestraft lassen. Sie sandte einen Fremden … ich nenne ihn der Einfachheit halber Jackson ! Jackson stahl Whitmores wertvollsten Besitz und trieb ihn auf diese Weise in den Tod.“ Halte inne, um die Wirkung meiner Worte auf Matilde zu beobachten. Fahre fort: „In Whitmore hatte die einzige Chance für den einsamen, jungen Mann bestanden, sich eine neue Existenz aufzubauen, und das war nun zunichtegemacht. Doch er lernte, sich nicht länger von der Welt herumschubsen zu lassen. Er erwarb einen Revolver und fand den Dieb noch vor der Polizei. Es hatte lediglich einen Menschen außer ihm und Whitmore gegeben, der von der Existenz gewisser Bücher wissen konnte. An dem Punkt, an dem er Jackson stellte und dieser vor ihm kauerte, verspürte er auf einmal Mitleid. Ihm kam der Gedanke, dass es niemanden auf der Welt gab, der dieses Untier vermissen würde. Ohne ihn wäre die Erde zweifellos ein besserer Ort … so viele Gräueltaten, die vermieden, so viele Leben, die gerettet werden könnten. Alles, was Jackson angerichtet hatte, konnte vergessen werden, wenn ihn Dunkelheit fraß. An das, was danach geschah, erinnerte sich der junge Mann nicht mehr. Sobald er zur Besinnung kam, befand er sich einige Straßen entfernt. Alles sprach dafür, dass seine Waffe abgefeuert worden war, und er fürchtete sich vor den Folgen seines Handelns. Er kehrte nicht zurück, um sich zu vergewissern, dass er Jackson tatsächlich getötet hatte. Seine Schuld war nur zu ertragen, indem er sie im Alkohol ertränkte. Er trank, bis alle verbliebenen Erinnerungen an diesen verhängnisvollen Tag ausgelöscht waren. Manchmal dachte er darüber nach, sich selbst eine Kugel in den Kopf zu jagen. Oh ja, das waren schlimme Zeiten! Für eine Weile konnte er sich mit Mühe über Wasser halten, und er fand sogar einen Freund, Hasan , der selbst auch Probleme hatte. Sie halfen sich gegenseitig und erschufen gemeinsam eine neue Existenz. Paul vermied und bekämpfte die Sünde auf seine Art. Natürlich war er zum Scheitern verurteilt und beging wieder und wieder dieselben Fehler. Bis er eine Reise nach Norwegen plante, um dort einen Neuanfang zu wagen. Er legte sich dafür einen neuen Namen und eine neue Identität an. Zugegeben … gänzlich neu war sie nicht, denn diese hatte in seinem Unterbewusstsein schon lange verweilt.“ Ich strecke mich. „Nun bin ich real, und Paul lebt nicht mehr. Er ist lediglich eine verblassende Illusion. Realität und Fiktion haben die Plätze getauscht! Ich bin Rick Fairwell, der Mörder aller Mörder, und ich habe Paul umgebracht. Sieh hier!“ Aus meiner Manteltasche ziehe ich ein Bündel Ausweise und Papiere und werfe es ihr vor die Füße. Ich spüre, wie meine Erzählung den Alkohol verbrannt hat und ich allmählich ausnüchtere. Ich lehne mich zurück. „Soll ich dir erklären, warum ich dich eigentlich töten sollte, Matilde?“
Читать дальше