»Um Gottes willen, halten Sie ein!« unterbrach sie Nikolas hastig. »Ich bitte, hören Sie mich an. Es waltet hier offenbar das seltsamste Mißverständnis ob, das man sich nur denken kann. Ich habe das Fräulein kaum ein halbes dutzendmal gesehen. Aber wäre es auch sechzigmal der Fall gewesen oder wenn ich sie noch sechzigtausendmal sehen würde, so würde das für mich gewiß nichts ändern. Es ist mir nicht im entferntesten jemals ein Gedanke, ein Wunsch oder eine Hoffnung in Verbindung mit ihr aufgestiegen, außer höchstens die – ich sage dies gewiß nicht etwa, um ihre Gefühle zu verletzen, sondern um ihr die wahre Beschaffenheit der meinigen zu erklären –, außer höchstens die, diesem Orte eines Tages den Rücken kehren zu können und nie wieder einen Fuß hierherzusetzen oder daran zurückzudenken, – ja nicht einmal anders daran zurückdenken zu dürfen als mit Abscheu und Entrüstung.«
Nach dieser wohl nicht mehr mißzuverstehenden offenherzigen Erklärung, die sich mit dem ganzen Ungestüm eines empörten und aufgeregten Herzens Bahn brach, verbeugte sich Nikolas leicht und entfernte sich, ohne eine Erwiderung abzuwarten. Miss Squeers war geradezu vernichtet. Ihr Ärger, ihr Zorn, ihre Wut und die rasche Aufeinanderfolge bitterster leidenschaftlicher Gefühle, die ihr Innerstes durchwühlten, spotteten einfach jeder Beschreibung. Zurückgewiesen von einem Hilfslehrer, den man durch eine Zeitungsannonce und gegen ein Jahresgehalt von fünf Pfund, zahlbar in unbestimmten Raten, aufgelesen hatte und hinsichtlich Kost und Wohnung ganz wie die Zöglinge selbst hielt! – Und dies noch obendrein in Gegenwart eines unreifen Gelbschnabels von Müllerstochter, die ihre achtzehn Jahre zählte und sich in drei Wochen mit einem Manne verheiraten sollte, der sie auf den Knien um ihr Jawort angefleht! Ersticken hätte Fanny Squeers mögen bei dem Gedanken an eine solche Demütigung.
Aber ungeachtet des Sturmes in ihrem Innern blieb ihr doch das eine klar, daß sie Nikolas mit der ganzen Engherzigkeit und Erbärmlichkeit eines Abkömmlings des Hauses Squeers haßte und verabscheute. Auch blieb ihr noch ein Trost übrig, nämlich, daß sie ja jede Stunde des Tages seinen Stolz verwunden und ihn durch kleine Gehässigkeiten, Kränkungen und Verkürzungen verletzen konnte – um so leichter, als diese von einem so feinfühligen Manne wie Nikolas doppelt bitter empfunden werden mußten. Durch diese Aussicht innerlich gestärkt, suchte Miss Squeers die Sache zu ihrem Vorteile zu drehen, indem sie zu ihrer Freundin bemerkte, Mr. Nickleby sei ein so wunderlicher Mensch und von so unüberlegtem Wesen, daß sie glaube, es sei wirklich das beste, ihn ganz aufzugeben. Und damit trennten sich die beiden jungen Damen.
»Er soll sich hüten«, knirschte sie aufgebracht, als sie wieder in ihrem Zimmer war und ihren Gefühlen durch einen Ausfall auf Phib ein wenig Erleichterung verschafft hatte. »Wenn die Mama zurückkommt, werde ich sie schon gegen ihn aufhetzen.«
Das war wohl kaum mehr nötig. Der arme Nikolas wurde auch sowieso, abgesehen von der schlechten Kost, der schmutzigen Wohnung und dem grausigen Elend, dessen Zeuge er unablässig sein mußte, mit jeder Art Herabwürdigung, die Bosheit und der niedrigste Haß zu ersinnen vermochte, behandelt.
Aber das war noch nicht alles. Es wurde noch ein anderes, tiefer einschneidendes Peinigungssystem erdacht, das ihn fast zur Verzweiflung brachte.
Der arme Smike nämlich folgte ihm, seit er im Schulzimmer so freundlich mit ihm gesprochen, in unermüdlicher Dienstbeflissenheit fast wie ein Hund nach, suchte ihm jeden kleinen Wunsch an den Augen abzulesen und fühlte sich glücklich, wenn er nur in seiner Nähe war. Stundenlang konnte er neben ihm sitzen und ihm stumm ins Gesicht sehen, während gar ein Wort aus Nikolas' Mund seine kummervollen Züge erhellte und ihn selig machte. Er war ein ganz anderes Wesen jetzt, denn sein Leben hatte einen Zweck bekommen – nämlich den, der einzigen Person, die ihn, wenn nicht gerade mit Liebe, so doch wie einen Menschen behandelt hatte, seine Anhänglichkeit zu beweisen.
An diesem armen Wesen wurde nun von früh bis spät abends jede erdenkliche Bosheit verübt, die man an Nikolas selbst nicht ausüben konnte. Die härtesten Arbeiten und Ohrfeigen hätte Smike nicht als etwas Absonderliches empfunden, denn viele schwere und gramvolle Jahre hatte er nichts anderes gekannt. Kaum hatte man aber bemerkt, wie er an Nikolas hing, als es Peitschenhiebe und Faustschläge nur so regnete. Squeers war eifersüchtig auf den Einfluß, den sein Hilfslehrer so bald erworben, die Familie haßte ihn, und Smike mußte beides entgelten. Nikolas mußte das alles untätig mit ansehen, wenn er auch mit den Zähnen knirschte, sooft sich ein solcher feiger und unmenschlicher Angriff auf den armen Smike wiederholte.
Er hatte gewisse regelmäßige Lehrstunden für die Zöglinge eingeführt, und eines Abends, als er in der wieder wie gewöhnlich ungastlichen Schulstube auf und ab ging und ihm das Herz bei dem Gedanken, daß sein Schutz und sein Wohlwollen das Elend eines so tief beklagenswerten Wesens nur noch vermehrte, fast brechen wollte, blieb er auf einmal unwillkürlich vor der dunklen Ecke stehen, in der Smike kauerte.
Der arme Junge saß mit rotgeweinten Augen emsig über einem zerrissenen Heft und mühte sich vergeblich ab, mit einer Aufgabe zustande zu kommen, die ein mit Durchschnittsfähigkeiten begabtes Kind von neun Jahren mit Leichtigkeit hätte lösen können, die aber für das verwirrte Gehirn des zertretenen neunzehnjährigen Burschen ein Buch mit sieben Siegeln bedeutete. Dessenungeachtet saß er da, die Seite geduldig wieder und wieder durchbuchstabierend, von dem krankhaft eifrigen Wunsche beseelt, seinem einzigen Freunde auf der Welt zu gefallen.
Nikolas legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Ich komme nicht damit zustande«, jammerte Smike niedergeschlagen und sah mit einem Schmerzensblick auf. »Es geht wirklich nicht.«
»Du sollst dich nicht so anstrengen«, tröstete Nikolas.
Smike schüttelte den Kopf, klappte das Heft mit einem Seufzer zu, stierte ausdruckslos um sich her, legte dann das Gesicht auf den Arm und weinte.
»Um Gottes willen hör auf«, sagte Nikolas erregt, »es zerreißt mir das Herz.«
»Man ist schlimmer gegen mich als je«, schluchzte der Junge.
»Leider, leider«, seufzte Nikolas.
»Aber für Sie könnte ich in den Tod gehen. – Ich weiß gewiß, sie haben es darauf abgesehen, mich unter die Erde zu bringen.«
»Du wirst es besser haben, armer Junge«, tröstete Nikolas und schüttelte traurig den Kopf, »wenn ich fort bin.«
»Fort?!« rief Smike und starrte Nikolas erregt ins Gesicht.
»Pst! Sprich leise«, warnte Nikolas.
»Sie wollen fort?« flüsterte Smike, außer sich.
»Ich kann es noch nicht bestimmt sagen. Ich habe mehr zu mir selbst gesprochen als zu dir.«
»Sagen Sie mir«, flüsterte der Junge, »Um Gottes willen, sagen Sie mir, wollen Sie wirklich gehen? – Wirklich?«
»Sie werden mich schließlich dazu zwingen«, murmelte Nikolas. »Und die Welt liegt offen vor mir.«
»Sagen Sie mir«, drängte Smike, »ist die Welt auch so furchtbar und grauenhaft wie dieser Ort?«
»Gott sei vor! Ihre schwerste und sauerste Arbeit wäre ein Glück gegen hier.«
»Würde ich Sie dort je wiedersehen?« fragte der Junge ungewöhnlich schnell und leidenschaftlich.
»Ja. – Sicherlich«, versetzte Nikolas, in der Absicht, ihn zu beschwichtigen.
»Nein, nein – nicht so«, keuchte Smike und ergriff Nikolas' Hand. »Würde ich – würde ich – es wirklich –? Sagen Sie mir es noch einmal. Geben Sie mir die Versicherung, daß ich Sie gewiß dort treffen würde.«
»Ja, du würdest es«, erwiderte Nikolas mit derselben wohlwollenden Absicht, »und ich könnte dir beistehen und müßte nicht neue Leiden über dich bringen, wie ich es hier getan habe.«
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