»Jerry.«
Jerry drehte sich um und hob seine dicke Pranke, zum Zeichen, dass Woody warten sollte, bis er zu Ende telefoniert hatte. Aus seinem Mund flossen eine Menge Ja, Sir und Ich verstehe .
Woody sah sich in der Lobby um. Der Teppich war abgetreten und sicher mindestens zehn Jahre alt. Die Glastüren zur Straße hin waren mit fettigen Fingerabdrücken verschmiert, im unteren Teil der linken war das Glas gesprungen. Das Klingelbrett war alt, über den rechteckigen Plastikknöpfen klebten billige Namensschilder. Woody konzentrierte sich, um seinem Hirn Julies Nachnamen zu entlocken. Er fluchte leise; er hätte sich nicht so schnell wieder abschießen sollen, aber es war nicht anders gegangen. Er war in letzter Zeit so unglaublich müde und konnte nicht schlafen, das Wochenende war noch lange hin, und bis dahin musste er durchhalten. Dann konnte er seine Batterien aufladen und sich sortieren.
»Woody, warum hast du so lange gebraucht? Os ist schon oben.« Jerry hatte seinen Anruf beendet und stand in Flüsternähe vor ihm. »Es ist schlimm da oben, Woody. So was hab ich noch nie gesehen. Und um alles noch schlimmer zu machen, sitzen mir die Sesselfurzer im Nacken. Der Fall muss unbedingt gelöst werden. Julie ist noch nicht mal kalt, und die sitzen mir im Nacken. Ist das zu glauben? Sogar der Deputy Chief war schon hier, verdammte Scheiße.«
»Die wollen bloß, dass der Mörder gefasst wird. Wir müssen auf unsere Leute aufpassen, Jerry.«
Der fette Detective Sergeant sah beschämt aus. »Das weiß ich. Das weiß ich doch.«
Er wusste es, sorgte sich aber vor allem wegen der Arschlöcher mit mehr Streifen als er selber und weniger darum, sich vielleicht bis zum Ende seiner Karriere mit einer verpfuschten Ermittlung in einem Polizistenmordfall auf dem Gewissen herumplagen zu müssen.
»Ich hab dich und Os darauf angesetzt. Und Dennis.«
»Dennis?«
»Verdammt, nicht du auch noch. Hör zu, wie ich schon zu Os gesagt habe, Dennis löst Fälle. Ich weiß, dass er ein ziemlicher Vollidiot ist, aber mit ihm sind noch zwei Augen mit fast zwanzig Jahren Erfahrung an dem Fall dran. Gebt ihm zu tun. Er wird euch helfen, das Arschloch zu kriegen.«
Woody nickte und ging zum Aufzug. Argumentieren war zwecklos. Jerry war von den hohen Tieren so eingeschüchtert, dass er sich niemals umstimmen lassen würde.
»Woody.«
Woody wandte sich um. »Ja, Jerry.«
»Wenn ihr den Typ habt … lass Os auf ihn los.«
Woody betrachtete forschend Jerrys Gesicht. Er meinte es ernst, das war deutlich zu sehen. Woody konnte nicht erkennen, ob Jerry das sagte, um so zu tun, als machte es ihm was aus, oder ob es ihm wirklich was ausmachte. Woody nickte und stieg in den Aufzug.
»Neunter Stock«, sagte Jerry.
»Ich weiß.« Woody hatte die Nummer auf der Klingel gesehen. Das Koffein in Kombination mit der kalten Nachtluft und dem Herumlaufen ließen den Rausch allmählich abklingen. Das Kleinkind döste, und Woody kam langsam wieder auf Touren.
Der Aufzug erschreckte ihn zu Tode. Woody kam sich vor wie Lois Lane, die von Superman in die Höhe gezogen wird. Er stellte sich der Aufgabe, den Namen der hässlichen Bratze, die die Figur gespielt hatte, aus seinem Hirn zu ziehen. Dass er schneller auf Margot Kidder kam, als er für Julies Nachnamen gebraucht hatte, verbuchte er als Fortschritt.
Als die Anzeige über der Tür verkündete, dass der Aufzug am siebten Stock vorbeischoss, griff Woody nach dem hölzernen Handlauf, der sich um drei Seiten der Kabine zog. Er war diverse Male mit Glanzlack nachlackiert worden und von jahrelangem Gebrauch durch fettige Hände ganz glitschig geworden. Der Aufzug hielt abrupt an, und Woody knickten die Knie weg. Er trat aus der Kabine, wischte sich die Hände an der Jacke ab und machte sich auf die Suche nach Julies Wohnung. Dort klopfte er an die Tür und wartete auf seinen Partner.
Os öffnete die Tür, und Woody war froh, dass ihm kein Gestank entgegenschlug. Das bedeutete, die Leiche war noch frisch. Mit einer frischen Leiche ließ sich mehr anfangen. Spuren trocknen schneller als Wasser in der Wüste, und Woody hoffte, es waren noch genug da, um nasse Füße zu bekommen.
»Hey, Os.«
»Wood.«
Woody trat ein und sah sich um. Die Wohnung war klein, er konnte durch die Küche ins Esszimmer gucken. Zur Rechten ging ein Flur ab, der vermutlich zum Wohnzimmer führte. Geradeaus führte ein anderer Flur dahin, wo das Schlafzimmer liegen musste.
Os beobachtete Woody. Os war stiller als sonst, und das wollte was heißen. Er hielt sich meistens kurz. Sie quatschten und scherzten nicht viel. Sie waren wie ein gut eingespieltes Ehepaar, vieles blieb ungesagt, aber kaum etwas wurde missverstanden.
»Was ist mit deiner Hand passiert?«, fragte Woody.
Os betrachtete seine geschwollenen Knöchel.
»Die war vor ein paar Stunden noch nicht so.«
Os schüttelte den Kopf und wandte sich um. »Hier lang.«
Os’ Fingerknöchel waren nicht zum ersten Mal geschwollen. Woody erlebte regelmäßig mit, wie er seine Hände traktierte, indem er auf irgendwelche Leute losging. Normalerweise erklärte Os das Geschehen immer so, als wäre es das Normalste der Welt. Woody verdrängte einen vertrauten Gedanken: Wenn er nicht zu uns gehören würde, stünde er auf der anderen Seite.
»Er wäre der Schlimmste von allen«, sagte Woody.
Os sah ihn über die Schulter hinweg an, Woody winkte ab. Os war an Woodys einseitige Unterhaltungen gewöhnt. Beide Männer waren aneinander gewöhnt. Sie akzeptierten die Macken des anderen und ließen sich davon bei der Arbeit nicht stören.
Woody merkte, dass Os immer langsamer wurde, je näher sie der Schlafzimmertür kamen. Er legte die Hand auf die Klinke und hielt inne, atmete tief ein, seine Schultern zogen sich nach oben. Woody nutzte die Pause, um sich in der Wohnung zu orientieren. Von hier aus konnte er das Wohnzimmer nicht sehen, es lag hinter der Küchenwand. Schräg rechts lag der andere Teil des Esszimmers. Eine Schiebetür führte vom Esszimmer auf einen Betonbalkon hinaus. Zur Linken sah Woody ein kleines Badezimmer und eine faltbare Schranktür.
Als er sich wieder umwandte, öffnete Os die Schlafzimmertür und trat ein. Woody folgte ihm, und was er sah, durchschlug ihn wie ein Schuss in den Magen. Julies Bauchhöhle lag offen da, darin ein leerer Abgrund. Woody konnte keine Organe sehen – nur eine dunkle, leere Höhle. Er versuchte, den Anblick zu verarbeiten, zu verstehen, was er sah, und dann fiel sein Blick auf die Nabelschnur auf dem nackten Oberschenkel.
Das Blut, die Nabelschnur, die entblößte Leiche – all das brachte Woodys Hirn zum Rasen, und hier im Schlafzimmer wurde er damit nicht fertig. Er drehte sich um und stolperte aus dem Raum. Seine Schulter prallte gegen die Wand, er nutzte sie auf dem Weg ins Badezimmer als Halt, stieß hinter sich die Tür zu und hielt sich mit beiden Händen am Waschbecken fest. Es war dunkel im Bad, zuerst konnte er nichts erkennen. Aber die Dunkelheit löste sich schnell in eine helle, lebendige Erinnerung auf. Woody sah seine tote Frau. Ihre Oberschenkel mit schwarzem Blut verkrustet. Seine kleine Tochter in ein Handtuch eingewickelt. Das Handtuch bedeckte das Gesicht des Babys, und Woody wünschte sich, es würde so bleiben, aber seine Halluzination wollte es anders. Das Handtuch wurde zurückgezogen, und Woody konnte nicht wegschauen – konnte nicht mal die Augen schließen. Er sah ein unschuldiges Gesicht ohne Leben. Die Haut war bleich, fast sah es aus, als würde sie schlafen. Fast. Das Gesicht war zu still und die Muskeln zu schlaff, als dass sie nur schlafen würde. Die Geburt war für beide zu viel gewesen, und Woody blieb allein mit der winzigen Leiche in einem Handtuch zurück.
Woody hatte diese Vision schon früher gehabt, aber in den letzten Monaten war sie seltener geworden. Vielleicht, weil er jede Nacht weniger schlief. Er war einfach so müde. Er wurde krank und brauchte Schlaf. Reine Erschöpfung, das war alles. Er machte Rückschritte, aber das konnte er wieder in den Griff kriegen – er brauchte bloß mal eine Pause. Er tastete nach der Tür und an ihr entlang zum Lichtschalter an der Wand. Die starken Birnen über dem Spiegel explodierten mit grellen hundert Watt. Woody erblickte sich im Spiegel – der Dreitagebart, die roten Augen, die eingefallenen Wangen. Er sah aus wie eine der Geiseln, die man nach einem Monat in Gefangenschaft von IS-Terroristen im Fernsehen sah. »Nicht so schlimm«, sagte er. Ein Monat in der Wüste war nichts, er lebte seit über einem Jahr in der Hölle.
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