»Jerry McLean hat mich herbestellt«, sagte Os und stieg aus.
Der Deputy Chief, ein blasser Mann Ende fünfzig mit Hasenzähnen und Ohren, die wie Satellitenschüsseln vom Kopf abstanden, nickte und sagte: »Jerry.« Er sprach so leise, dass Os ihn kaum hörte. Normalerweise wimmelte es an einem Tatort von Cops, die überall herumliefen und ermittelten, aber hier im neunten Stockwerk von 110 Ferguson Avenue South sprach der Deputy Chief gerade so laut, dass Jerry wie ein bei Fuß gerufener Hund aus der Tür kam.
Jerry sah Os, machte eine jähe Kopfbewegung in die Richtung, aus der er gerade gekommen war, und ging wieder in die Wohnung. Os folgte ihm, die vier Männer beobachteten jeden seiner Schritte, als müssten sie Punkte vergeben. Os nahm die Blicke kaum wahr, er hatte nur Augen für die Tür.
Vom Flur aus sah er rechts das Wohnzimmer und geradeaus die Küche. Das Wohnzimmer war genauso ordentlich, wie Os es in Erinnerung hatte. Auf jeder glatten Oberfläche stand irgendein Dekoartikel: Duftkerzen, Blumenvasen und Bilderrahmen, alle sorgfältig arrangiert. Die Blumen in den Vasen waren unecht, und die Bilder sahen aus, als hätte man sie aus einem uralten Fotoalbum befreit. Os ging geradeaus und war nach zwei Schritten in der Küche. Der Boden war sauber und das Spülbecken fleckenlos. Julie hatte die Angewohnheit, alle Stahloberflächen so abzuwischen, dass sie wie neu aussahen. Hinter der Küche lag das Esszimmer. Den Raum zwischen Küche und Wohnzimmer als Esszimmer zu bezeichnen, wäre vermessen gewesen, er bot kaum genug Platz für den Tisch und den Stuhl, die dort standen. Os drängte sich am Tisch vorbei ins Wohnzimmer und sah, dass Jerry auf ihn gewartet hatte und sich jetzt umdrehte, um durch den kurzen Flur ins Schlafzimmer zu gehen. Er bekam nicht mit, wie langsam Jerry sich bewegte, bis er fast in ihn hineinrannte. Der dicke Detective Sergeant holte tief Luft und betrat das letzte Zimmer. Os holte ebenfalls Luft und folgte ihm. Er sah das Bett, war eine Sekunde später wieder im Flur und stürmte zum Badezimmer.
Drei Einsätze in Afghanistan, zwölf Jahre als Cop – nichts davon hatte ihn auf das Schlafzimmer vorbereitet. Zum ersten Mal in fast dreizehn Jahren musste sich Os beim Anblick einer Leiche übergeben. Er hing tief über der Kloschüssel und würgte. Der Drink, zu dem er nie die Gelegenheit bekommen hatte, hätte alles nur lauter und unschöner gemacht. So kam nur ein bisschen Galle hoch, die Os ins Wasser spuckte. Er hob den Kopf aus der Schüssel und richtete sich langsam wieder auf. Als er sich umdrehte, merkte er, dass die Tür zu war und Jerry in dem winzigen Bad eine Menge Platz einnahm. Die starken Lampen über dem Waschbecken und die helle Deckenbirne enthüllten gnadenlos den schlechten Zustand seiner Haut. Die Nase war von dunkellila Venen durchzogen, die Wangen mit Aknenarben aus der Jugend übersät. Beim Rasieren hatte er eine Stelle am Hals übersehen. Wegen der dicken Wangen kam das vermutlich häufig vor. Außerdem war deutlich zu erkennen, dass Jerry sauer war.
»Verdammt, Os«, flüsterte er. »Ich hab dich herbestellt, weil ich den hohen Tieren gesagt hab, du kannst damit umgehen. Ich weiß, dass sie eine von uns ist, aber ich hab gedacht ... Scheiße, keine Ahnung, was ich gedacht habe.«
Os wusste, was Jerry gedacht hatte. Os kannte die Sprüche, die über ihn kursierten: Man nannte ihn Blechmann, harte Schale, kein Herz. Das war losgegangen, nachdem Os mit einem Zeugen Paschtunisch gesprochen hatte. Irgendwer hatte dann rausbekommen, dass Os in Afghanistan gedient hatte. Am nächsten Tag war Sand in seinem Schließfach gewesen, und jemand hatte einen Polizeihund zu seinem Schreibtisch geschickt, auf dem Rücken zwei Burger-Schachteln, die Kamelhöcker darstellen sollten. Damit hätte es gut sein können, aber Cops kreischen lauter als Schulmädchen. Ein paar kriegten raus, wo genau Os gewesen und was passiert war, und damit war Afghanistan der offizielle Grund, warum aus Os ein so verdammt harter Mistkerl geworden war – zudem kam das Gerücht auf, dass er um ein Haar beim Polizeipsychotest durchgefallen wäre. Os wehrte sich nicht. Seit der Blechmann-Mist in Umlauf war, quatschten ihn die anderen nicht mehr so voll und rieten ihm nicht mehr, sich zu beruhigen oder runterzukommen, wenn er mal ein bisschen die Kontrolle verlor. Seitdem konnte er bei einem Verhör oder einer Verhaftung zupacken, ohne dass jemand eingriff, als hätte ein Arzt ihm bescheinigt, dass er machen dürfte, was er wollte. In Wahrheit war sein Verhalten schon immer asozial gewesen. Während andere Kinder in der High School Football spielten, schickten seine Eltern ihn zum Boxen. Sein Vater hatte früh erkannt, was es mit Os auf sich hatte, und wenn er schon Leute verprügelte, dann wenigstens mit Handschuhen. Nach der Schule war die Armee das Naheliegende gewesen – ohne Handschuhe.
»Ich mein, du hast schon Schlimmeres gesehen, oder?«, fragte Jerry. »Du kannst damit umgehen. Die hohen Tiere draußen im Korridor sitzen mir im Nacken. Wir dürfen keine Scheiße bauen.«
Os schob Jerry zur Seite und ließ den Wasserhahn laufen. Es war klar, dass Jerry mehr zu sagen hatte, doch Os ignorierte ihn und hielt seinen Mund unter den Hahn, um von dem schwachen Strahl zu trinken. Dem verdammten Scheißkerl ging es nur darum, vor den vieren im Korridor gut dazustehen, dabei lag ein paar Meter von ihnen entfernt eine tote Kollegin. Wären sie nicht im Dienst gewesen, hätte Jerry jetzt seine Zähne vom Boden aufsammeln können.
»Alles okay, Jerry. Fangen wir an.«
Os verließ das Bad und kehrte ins Schlafzimmer zurück. Er hoffte, den Anblick beim zweiten Mal nicht mehr ganz so grauenhaft zu finden, aber das war nicht der Fall. Beim zweiten Mal wusste er, was ihn erwartete, und das machte es noch schlimmer. Er hob den Blick vom Boden und drehte den Kopf langsam zum Bett hin. Unter Julies braunem Haar, das über ihrem Kopf ausgebreitet lag, war nur ein kleiner weißer Fleck auf der Bettdecke zu sehen, der Rest so tiefrot verfärbt, wie nur Blut es konnte. Kaum zu glauben, dass der menschliche Körper genug Blut enthielt, um ein Bett derart zu färben, aber Os hatte auch noch nie einen Toten gesehen, der so ermordet worden war wie Julie. Sie war nackt, Arme und Beine weit ausgestreckt, Hände und Füße waren mit etwas an die vier Bettpfosten gefesselt, das nach einem zerrissenen Laken aussah. Die linke Gesichtshälfte war eingeschlagen, der Wangenknochen völlig zersplittert. Os wollte auf Julies Gesicht verweilen, den Rest nicht sehen, aber es musste sein. Er senkte den Blick und atmete scharf durch die Nase ein, wie sonst nur, wenn er sich geschnitten hatte und darauf wartete, dass das Blut kam. Julies Unterleib war mit drei langen Schnitten aufgeschlitzt und das Fleisch aufgeklappt worden wie zwei Fensterläden. Das Blut auf dem Bett stammte aus Julies schwangerem Bauch. Nur dass sie nicht mehr schwanger war. Die Nabelschnur lag wie eine blutverschmierte blaue Schlange auf dem nackten Oberschenkel. Ein glatter Schnitt, genau wie die im Bauch. Julie sah aus wie ein Laborpräparat – irgendein Experiment auf Matratze und Bettzeug. Os liefen Tränen über die Wangen, die nur Julie sehen konnte. Diesmal rannte er nicht weg, er war wie erstarrt – und fast genauso leblos wie die Leiche vor ihm.
Jerry hatte recht. Os hatte Schlimmeres gesehen, aber da drüben war es was anderes gewesen. Tote Körper mit anonymen Gesichtern, unbekannte verstümmelte Opfer, massakrierte Fremde; nicht so hier. Das Blut, die Demütigung, die totale Missachtung für das Leben eines anderen ähnelten sich, aber keiner der Toten am anderen Ende der Welt hatte Os’ Kind in sich getragen.
Er wischte sich mit dem Ärmel das Gesicht ab und zwang die Tränen zurück. Langsam atmete er ein und aus. Dann drehte er sich zu Jerry um und sagte: »Ich übernehm das, Jerry.«
»Ich will, dass der Fall gelöst wird, Os. Ich will den Hurensohn kriegen, der das getan hat, wie, ist mir egal.«
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