»Dennis, Jerry hier. Ich brauch dich an der 110 Ferguson Avenue South.«
»Jerry, heute ist mein freier Tag. Ich weiß, dass der Tag praktisch um ist, aber auch die Nacht gehört mir. Komm schon, Mann, ich hab ein Mädchen da.«
Jennifer warf sich das Haar über die Schultern und ihm einen Luftkuss zu.
»Eine von uns hat’s erwischt. Julie Owen, Detective bei der GANG-Einheit. Mir egal, ob heute Weihnachten ist, du bist dran.«
»Bin sofort da.«
Dennis drückte den Anruf weg, ging zum Sofa und hob seine Unterhose auf.
»Verschwinde«, sagte er.
»Aber wir hatten doch gerade Spaß, Daddy.«
Dennis zog seine Hose an und kramte drei Zwanziger aus der Tasche. »Nimm das und geh, Benjamin .«
Jennifer stand auf und zog das Kleid zurecht. »Wer –«
»Ich kenn deine Akte – wo du gewesen bist, was du gemacht hast. Ich weiß, wie dein Vater dich genannt hat, Benjamin.«
Dennis wedelte mit den Geldscheinen, bis Jennifer sie ihm aus der Hand zog. Kaum war die Transaktion vollbracht, packte er Jennifer am Arm und schob sie zur Haustür. »Warte, meine Schuhe.«
Er stellte Jennifer an der Haustür ab. »Bleib hier«, sagte er, ging zurück ins Wohnzimmer, sammelte die High Heels vom Teppich auf und warf einen Schuh nach dem anderen in Richtung Tür. Jennifer schützte ihren Kopf mit den Händen und ließ die Schuhe gegen die Wand prallen.
»Du fängst schlechter als ein Mädchen«, sagte Dennis.
»Dafür mache ich eine Menge anderer Dinge besser als die meisten Mädchen. Leider wirst du das heute nicht rausfinden. Vielleicht morgen?«
Dennis öffnete die Tür und schob Jennifer nach draußen. Er wollte die Tür wieder schließen, hielt jedoch inne, als sie noch einen Spalt offen stand. »Vielleicht morgen«, sagte er.
»Wir haben ein Date, Daddy.«
Dennis schloss die Tür und machte sich fertig.
»Wo ist das verdammte Pizzastück?«
Woody bekam keine Antwort, er redete mit sich selbst. Eine schlechte Angewohnheit, die sich im letzten Jahr festgesetzt hatte wie Hautausschlag. Woody kramte durch Stapel alter Pizzaschachteln, als wären es Akten, er suchte nach den Resten der Pizza von gestern. Die Schachteln sahen alle gleich aus, und Woody versuchte, sich zu erinnern, welche Seite der Küchentheke der Anfang und welche das Ende war. Da lagen um die vierzig Schachteln, und er hatte das dumpfe Gefühl, am falschen Ende angefangen zu haben. Er stand neben dem Kühlschrank. Obwohl er gerade eine Zwölf-Stunden-Schicht und drei Bier hinter sich hatte, funktionierte seine Coplogik noch.
»Die Schachteln am Kühlschrank müssten die älteren sein, weil, da würde ich stehen und essen, wenn die Küche leer wäre. Ich würde zum Essen was trinken wollen und die Schachtel abstellen, um mir ein Bier zu holen.«
Um seine Hypothese zu überprüfen, hob Woody den Deckel der untersten Schachtel neben dem Kühlschrank an und fasste hinein. Er fand kein Pizzastück, dafür etwas, das er erst mal vom Boden der Schachtel abpulen musste. Er stieß den Fingernagel hinein, dann zog er die Hand aus der Schachtel und hielt sie sich vors Gesicht. Um Licht zu haben, musste er sich umdrehen. Die 40-Watt-Funzel, mit der er die alte Birne in der Küche ersetzt hatte, war zu schwach. Aber er hatte keine andere im Haus gehabt, und um Ersatz hatte er sich nie gekümmert. Das Dämmerlicht enthüllte, dass es sich bei dem gefundenen Klumpen ehemals um eine grüne Olive gehandelt hatte. Obendrauf spross Schimmel, aber der verschrumpelte Teil, der an der Pappschachtel festgeklebt hatte, war noch immer grünlich.
Woody nickte und umrundete die Kücheninsel, deren Granitoberfläche mit Werbewurfsendungen und alten Essensschachteln vom Chinesen übersät war. Die Kücheninsel endete am Mülleimer. Woody konnte den Abfall selbst bei geschlossenem Deckel riechen und versuchte, sich zu erinnern, wann er zuletzt den Müll rausgebracht hatte. Kein gutes Zeichen, dass er nicht wusste, an welchem Tag die Müllabfuhr kam. Das Grummeln in seinem Magen ließ ihn den Müll vergessen; er hielt direkt auf die oberste Schachtel des letzten Stapels zu und förderte ein Pizzastück von gestern mit Schinken und Ananas zutage.
»Elementar, mein lieber Watson«, sagte er laut.
Die Pizza war kalt und ziemlich fade, die Ananas aber noch ein bisschen feucht. Woody hatte sich nie was aus Ananas gemacht – das war ihr Lieblingsbelag gewesen. Woody war sicher, dass sie Ananas nur bestellt hatte, damit er ihre Pizzahälfte nicht aß. Aber ein Jahr täglichen Pizzakonsums hatte Woodys Geschmack verändert. Nach sechs Monaten war ihm schon bei dem Gedanken an Peperoni und Salami, seiner Standardbestellung, übel geworden. Also musste er entweder etwas anderes bestellen oder kochen lernen. Woody hatte begonnen, sich andere Beilagen auszusuchen, und festgestellt, dass er Pizza weiterhin essen konnte. Ananas vermied er noch ein paar Monate, aber irgendwann war er eingeknickt und hatte das Obst bestellt. Eine Zeit lang aß er wegen der Ananas dann weniger. Er starrte so lange die Pizza an, bis er weinen musste. Aber eines Abends hatte er nur noch die Ananashälfte im Haus gehabt und sie schließlich gegessen. Es war nicht so schlimm gewesen wie erwartet. Fast hatte er das Gefühl, sie wäre noch da. Die Frucht passte nicht zur Pizza, aber der Gedanke, dass sie durch die Tür kommen könnte, um ihre Hälfte zu essen, machte die Pizza genießbar.
Woody stopfte sich die letzten beiden Stücke in den Mund und kaute gerade ausreichend, um sie runterschlucken zu können. Was noch in der Kehle steckte, rutschte mit einem Schluck aus dem vierten Bier runter. Eigentlich hatte Woody keinen Appetit, sein Heißhunger galt etwas anderem. Die kalte Pizza und das Bier waren nur das Vorspiel. Er fand noch eine übrig gebliebene Kruste in der Schachtel. Die Kruste war schneller gealtert als der Rest, Woody musste kleine Stücke abbrechen und sie im Mund aufweichen, bevor er den harten Teig runterwürgen konnte. Während er an dem letzten Stück nagte, starrte er die Schublade an. Er wollte eigentlich überhaupt keine Pizza.
»Scheiß drauf«, sagte er laut.
Er warf die Kruste in Richtung Spülbecken und hörte sie gegen ein Glas klirren, das ganz oben auf dem dreckigen Geschirrstapel stand. Das Abwaschen hatte er schon vor Monaten aufgegeben, irgendwann waren ihm saubere Teller, Gläser, Besteck und Schüsseln ausgegangen. Was nicht aus einer Schachtel gegessen oder einer Flasche getrunken werden konnte, wurde in seinem Haus einfach nicht mehr verzehrt. Woody zog die Schublade auf und griff hinein. Sie war fast leer. Die Messer und Kochutensilien, die einst darin gelegen hatten, waren jetzt im Spülbecken oder unter den Müllhaufen auf der Arbeitsfläche begraben. Übrig geblieben waren nur noch ein Flaschenöffner und eine kleine Schminktasche, die ihr gehört hatte. Als Woody die Tasche zum ersten Mal in die Hand nahm, hatte sie nach ihrem Parfüm geduftet. Stundenlang hatte er daran gerochen, bis sie nur noch nach seinem schalen Atem stank. Auch jetzt verströmte sie einen furchtbaren Geruch, der ihm aber den Puls in die Höhe trieb. Es war ihm peinlich, dass der Gestank ihn mehr erregte als früher ihr Duft. Er nahm die Tasche, hielt kurz inne und zählte im Kopf nach, wann er sie zuletzt in der Hand gehabt hatte – erst vor zwei Tagen. Einen Moment lang überlegte er, sie wieder wegzulegen. Aber er war in letzter Zeit kränklich gewesen und so müde. Er arbeitete zu viel und bekam nicht genug Schlaf, war erschöpft und nervös und brauchte dringend Entspannung. Das war alles. Er griff schneller wieder zu der Tasche, als ihm lieb war und am Wochenende hatte er frei und konnte Schlaf nachholen. Mit ein bisschen Schlaf wäre bald alles wieder normal. Woody überwand seine Gewissensbisse und nahm die Tasche mit ins Wohnzimmer.
Der Fußboden war mit alten Zeitungen und noch älteren Pizzaschachteln übersät. Jedes Sofa und jeder Sessel waren von ordentlich aufgestellten Ringen leerer Flaschen umzäunt, um den La-Z-Boy-Sessel herum gleich dreireihig, hier saß er am liebsten. Woody legte die Tasche auf den Tisch neben dem Sessel und setzte sich vorsichtig hinein, um keine der Flaschen umzustoßen. Das abgenutzte braune Leder ächzte, als er sich in die Kissen lehnte. Er ließ seine Knöchel knacken und zog den Reißverschluss der Schminktasche auf. Sie enthielt eine Glaspfeife, ein Feuerzeug und einen kleinen Ball aus Alufolie. Woody zog die Folie auseinander und betrachtete die auf der zerknitterten Oberfläche liegenden Reste. Nur noch drei kleine Heroin-Rocks – weniger, als er gedacht hatte.
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