Das deutsche Schriftsystem beruht nicht, wie das spanische, weitgehend auch das türkische, auf einer 1:1-Phonem-Graphem-Korrespondenz, aber es ist auch nicht so undurchsichtig wie das englische oder französische. Spanische und türkische Kinder können deshalb relativ problemlos mit einer Anlauttabelle das Schreiben erlernen, während englische oder französische Anlauttabellen nicht funktionieren würden. Für das Deutsche ist dieses häufig eingesetzte Hilfsmittel zum Lesen- und Schreibenlernen allenfalls für den Einstieg geeignet, um das Prinzip der Alphabetschrift zu veranschaulichen. Ein längerer Gebrauch wäre aber nicht zielführend, da Anlauttabellen eine 1:1-Phonem-Graphem-Korrespondenz suggerieren, die es im Deutschen in eindeutiger Form nur bei wenigen Wörtern gibt. Stattdessen müssen zwei Alternativen bedacht werden:
1 für ein Phonem können mehrere Grapheme stehen
2 ein Graphem kann mit mehreren Phonemen korrespondieren
Im ersten Fall liegt das Problem beim Schreiber, der seine Mündlichkeit in Schrift umsetzen und dazu das entsprechende Graphem aus einer Reihe von Möglichkeiten auswählen muss. Im zweiten Fall hat der Leser das Problem, von einem Graphem auf die zutreffende Aussprache von mehreren möglichen zu schließen.
Für einen Schreiber, der beispielsweise für das Phonem /k/ ein entsprechendes Graphem finden muss, ist eine Anlauttabelle von geringem Nutzen, da sie ihm nur das < k > als Klein- und Großbuchstaben anbietet. Für Wörter wie Sack oder Wachs muss aber eine Kombination von zwei Buchstaben, die Digraphen < ck > und < ch >, gewählt werden, für das Wort Hexe benötigt man das Graphem < x > für die Phoneme /k/ + /s/ und in Wörtern fremder Herkunft wie Club oder Clique stehen der Monograph < c > und der Digraph < qu > für das Phonem /k/. Für Schreiber, vor allem für Anfänger, ist diese Vielfalt sicherlich unangenehm, da sie mit einem erhöhten Lernaufwand verbunden ist, aber für Leser haben diese Schreibungen einen informativen Mehrwert, da sie sich mit ihrer anderen Schreibung vom Kernwortschatz abheben, dem Leser als ‚besondere Wörter‘ ins Auge fallen und ihm eine fremde Herkunft signalisieren können. Würde ein Schreiber von einer 1:1-Phonem-Graphem-Korrespondenz ausgehen und eine Anlauttabelle nutzen, würde er diese Wörter so schreiben: * Sak , * Waks , * Hekse , * Klup , * Klike . Für den Schreiber wäre das sicherlich leichter so, aber der Leser hätte Probleme mit der Sinnentnahme.
Ein anderes Problem hat der Leser damit, anhand eines Graphems zu erkennen, für welches Phonem es steht. So kann das Graphem < o > für ein kurzes, ungespanntes /ɔ/ wie in Topf stehen, aber auch für ein langes, gespanntes /o:/ wie in rot . Das Graphem < e > kann sogar vier mögliche Phoneme repräsentieren:
(1) |
/e:/ |
Steg, Weg |
|
/e/ |
legal |
|
/ɛ/ |
Geld, weg |
|
/ə/ |
Tage |
Und schließlich kann das Graphem < e > auch mit gar keinem Phonem korrespondieren, nämlich beim < ie > wie in Sieb , wo es als Längezeichen dient, oder beim umgangssprachlichen Wegfall (vulgo: Verschlucken) des /ə/ in Wörtern wie Mittel oder wohnen .
Die Unterschiede in der Aussprache des Graphems < e > sind nur für Leseanfänger und Deutsch-Lerner problematisch. Kinder im Anfangsunterricht lesen ein Wort wie geben häufig als [ge:be:n], da sie nicht beachten, dass das Graphem < e > in unbetonten Silben immer nur als /ə/, also als Schwa (Murmelvokal), artikuliert werden kann. Kompetente Leser dagegen erkennen seine Aussprache normalerweise leicht durch seine Position im Wort oder der Silbe. Beim < e > in Weg kann es sich nur um das lange, gespannte /e:/ handeln, da Weg zur zweisilbigen Form Wege verlängert werden kann, während das bei weg nicht möglich ist. In Topf wird das < o > als kurzes, ungespanntes /ɔ/ realisiert, da zwei Konsonanten folgen, während in rot nur ein Konsonant folgt und das Wort zu rote oder rotes verlängert werden kann. Später werden wir diese Regularitäten noch genauer erläutern.
Auch Konsonantengrapheme können mit mehreren Phonemen korrespondieren. Das Graphem < s > wird am Silbenende stimmlos als /s/ ( Haus ) gesprochen, am Silbenbeginn dagegen stimmhaft als /z/ ( Sahne ), allerdings nur in der nördlichen Hälfte Deutschlands, und schließlich wird das < s > mit nachfolgendem < t > oder < p > als /ʃ/ ( Stein, Spiel ) realisiert.
Die Grapheme < b >, < d > und < g > werden am Ende einer Silbe als [p], [t] oder [k] realisiert, so in Wörtern wie Bub , Bad oder Weg . Auch hier gibt die Verlängerung dieser einsilbigen Wörter in eine zweisilbige Form dem Leser den Hinweis, dass Bub mit Buben , Bad mit Bädern und Weg mit Wegen semantisch eine Einheit bilden. Man bezeichnet das Prinzip, das dieser Regelung zugrunde liegt, als Stammprinzip oder morphematisches Prinzip. Es sorgt dafür, dass lexikalische Morpheme (Wortstämme) wie < kind >, < lob > oder < klang > in allen Wortformen erhalten bleiben, aber auch grammatische Morpheme (Flexionsendungen) wie <- er> , <- en > und Wortbildungsmorpheme (Vor- und Nachsilben) wie < ver ->, < ent ->, <- keit >, <- ig >, <- lich > oder <- ung > werden immer gleich geschrieben. Dieses Erhaltungsprinzip bietet dem Leser Sicherheit, in Bruchteilen von Sekunden zu erkennen, welche lexikalischen und welche grammatischen Informationen kodiert wurden.
Neben Morphemen werden in der Schrift auch unbetonte Silben erhalten, die in der gesprochenen Alltagssprache nicht mehr artikuliert (vulgo: verschluckt) werden. Da sich das Deutsche beim Übergang vom Althochdeutschen zum Mittelhochdeutschen von einer Silbensprache mit vollen Endsilben zu einer Wortsprache gewandelt hat (Szczepaniak 2007), haben sich die unbetonten Silben immer weiter abgeschwächt, teilweise sind sie gänzlich verschwunden. In Wörtern wie Fibel oder Hasen ist der Schwa-Laut in der Regel nicht mehr zu hören. Und in Wörtern, die auf <- er > enden, wird standardsprachlich nur ein dunklerer Schwa-Laut, das [ɐ], realisiert. Grundsätzlich kann man also sagen, dass sich die unbetonten Sprechsilben so stark abgeschwächt haben, dass sie kaum noch oder gar nicht mehr hörbar sind, während sie als Schreibsilben erhalten blieben, weil das für die rasche Sinnentnahme beim Lesen nützlich ist. Das Graphem < e > bleibt grundsätzlich immer in diesen unbetonten Endsilben beim Schreiben erhalten.
Zu einer weitgehenden Vereinheitlichung der regionalen Schreibkonventionen kam es seit dem 15. Jahrhundert mit Beginn des Buchdrucks. Die Schreibungen wurden im Hinblick auf die Leser optimiert und zwar vor allem von den Druckern, die ihre Schriften in gut lesbarer Form auf den Markt bringen wollten (Maas 2015: 21). Die heute gültigen orthografischen Regelungen wurden also nicht von Sprachwissenschaftlern in Elfenbeintürmen ausgeheckt, sondern von Druckereien, die die Regeln nach und nach an den Bedürfnissen ihrer Leserschaft ausgerichtet haben, um ihre Produkte besser verkaufen zu können.
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