Die Geschichte der in Versailles den Deutschen auferlegten Tribute ist erst seit kurzem zu Ende. Der Grund waren die Restzahlungen für Auslandsschulden nach der Londoner Schuldenkonferenz von 1953, die sogenannte Schattenquote. Die Schattenquote wurde in London für den, wie es damals schien, eher unwahrscheinlichen Fall einer deutschen Wiedervereinigung festgelegt. Die Bundesrepublik, so befanden seinerzeit die westlichen Gläubiger, solle als Teilstaat nicht über Gebühr für jene öffentlichen Schuldtitel aufkommen, die ihr das Deutsche Reich auch in Form von Reparationsanleihen hinterlassen hatte. Zwar zahlte Westdeutschland bis ins Jahr 1980 rund 14 Milliarden D-Mark für Zins und Tilgung auf diese Papiere. Doch im Schatten der deutschen Teilung gab es zumindest für die zwischen 1945 und 1953 angefallenen Zinsen einen Rabatt. Als die Wiedervereinigung 1990 unverhofft Wirklichkeit wurde, lebte auch die Schattenquote auf: 251 Millionen D-Mark, davon rund drei Viertel aus reparationsbezogenen Anleihen. Es war ein kaum nennenswerter Posten, der im Bundeshaushalt 2002 weniger als vier Millionen Euro betrug.26 Fast hundert Jahre nach Versailles, im Oktober 2010, ist die letzte Schuld beglichen worden.
Weitaus mehr als dieses Reparationskuriosum, das wie ein rostiger Nagel bis in unsere Tage an die Hinterlassenschaft des Ersten Weltkriegs erinnerte, kann indes die demokratische Euphorie zur Jahrtausendwende als ein spätes Echo des Jahres 1919 gelten. Nicht zufällig ist sowohl 1919 wie 1990 das Ende der Geschichte ausgerufen worden. Und seitdem der Presbyterianer Wilson 1917 den Krieg gegen Deutschland als Kreuzzug gegen »den natürlichen Feind der Freiheit« aufnahm, ist Amerikas civilizing mission selten, auch während der Anti-Hitler-Koalition des Zweiten Weltkriegs nicht, so emphatisch artikuliert worden wie unter der Präsidentschaft von George W. Bush. Trotz ihrer Verachtung völkerrechtlicher Institutionen beriefen sich denn auch nicht nur die akademischen Vordenker des martialischen Demokratie-Exports in den Irak durch den Dritten Golfkrieg ausdrücklich auf Wilson, der seine zahlreichen militärischen Interventionen in Mittelamerika und der Karibik »moralische Diplomatie« nannte. Und tatsächlich ist dem amerikanischen Selbstbestimmungspostulat damals wie heute sowohl die religiöse Fundierung und der Anspruch einer höheren Moralität als auch der schwache Sinn für die Mühen der Ebene des nation-building eigen.
Wie 1919 zeigen sich deren Schwierigkeiten vom Balkan bis zur Ukraine auch wieder mitten in Europa. Daß die nationalen Entflechtungskriege der 1990er Jahre in Südosteuropa wieder die Verwerfungen vom Beginn des 20. Jahrhunderts sichtbar werden ließen, stellte noch achtzig Jahre später der in den Pariser Vorortverträgen niedergelegten Friedensordnung kein gutes Zeugnis aus. Aber auch der Friedensschluß von Dayton hat 1995 Grenzen gezogen, mit denen auf dem Balkan kaum jemand zufrieden ist. Vielleicht gibt es sie heute so wenig, wie es sie 1919 geben konnte. Dies gilt auch für die Ukraine, was übersetzt Grenzland bedeutet. Dort haben sich zwischen Krim und Lwiw, dem ehemaligen Lemberg, in der Ostorientierung der einen und der Westorientierung der anderen nur scheinbar unvermutet die alten Grenzen der vor rund hundert Jahren untergegangenen Vielvölkerreiche Rußland und Österreich-Ungarn aufgetan. Derweil träufelt das Gift des von Wilson (und Lenin) propagierten Prinzips der Selbstbestimmung der Völker weiter, das ethnische Kollektive über individuelle Menschenrechte und Minderheitenrechte setzt. Ungarn, das nach dem Ersten Weltkrieg als Kriegsverlierer mit dem Verlust von zwei Dritteln seines Staatsgebiets territorial weitaus härter beschnitten wurde als der Bündnispartner Deutschland, fordert im Namen des Selbstbestimmungsrechts der Völker die Heimholung der ungarischen Minderheiten in der Westukraine und anderswo. Im Jahr 2010 führte die ungarische Regierung einen nationalen Gedenktag ein, der an die Unterzeichnung des Vertrags von Trianon im Juni 1920 als aktuelles Trauma erinnert. In einer Phase, in der Europa erneut auch finanziell zusammenstehen muß, sind die Europaverächter in den EU-Gründungsstaaten hingegen mit einem immer kürzeren Gedächtnis geschlagen. Kurzum: Versailles ist uns heute näher, als man denkt, und wohl auch näher, als uns lieb ist. Man sollte die nachfolgende Streitschrift eines klugen Engländers, der gegen die neue Weltordnung von 1919 die Notwendigkeit des wirtschaftlichen und politischen Zusammenhalts Europas darlegte, mit Demut lesen.
Krieg und Frieden ist eine gekürzte Version der im Dezember 1919 beim englischen Verlagshaus Macmillan erschienenen Economic Consequences of the Peace von John Maynard Keynes. Die neue deutsche Übersetzung stammt von Joachim Kalka.
Die Economic Consequences wurden erstmals 1920 von den Wirtschaftswissenschaftlern Carl Brinkmann und Moritz J. Bonn ins Deutsche übertragen und unter dem Titel Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages im Frühsommer 1920 im Verlag von Duncker & Humblot veröffentlicht. Zeitgleich erschienen Ausgaben der Economic Consequences in dänischer, flämischer, schwedischer, italienischer, spanischer, rumänischer, russischer, japanischer und chinesischer Sprache. Wie schon beim englischen Original trug Keynes die Kosten für Drucklegung und Übertragung in allen Fällen selber. Daß er dies auch für die deutsche Ausgabe tat, kann daher nicht, wie wiederholt behauptet wird, als ein Ausweis besonderer Germanophilie gelten.
In Großbritannien und den USA werden die Economic Consequences bis heute umstandslos in voller Länge nachgedruckt. Für eine Kürzung sprach indes die Tatsache, daß insbesondere die beiden Kapitel zum Friedensvertrag und zur Wiedergutmachung für den heutigen Leser allzu minutiöse Darstellungen der Versailler Friedensbedingungen enthalten. Was seinerzeit als notwendige Aufklärung über weitgehend Unbekanntes willkommen geheißen wurde und noch bis ins Detail interessierte, wirkt im Abstand von rund hundert Jahren für ein allgemeines Lesepublikum teilweise übergenau. Um Keynes’ Kritik zu würdigen, müssen wir beispielsweise nicht der Frage nachgehen, ob die Nichtberücksichtigung der »Versenkung von 675 Fischereifahrzeugen mit 71765 Bruttotonnen oder die Beschädigung und Belästigung von 1885 Fahrzeugen mit 8007967 Tonnen« bei der Berechnung der Erstattungskosten für durch feindliche Handlungen verlorene »2479 englische Fahrzeuge ausschließlich Fischerboote mit einer Gesamtzahl von 7759090 Bruttotonnen« bei einem Kostensatz von 600 Mark »den vielleicht überhohen Betrag der Erstattungskosten wieder ausgleichen«27 mag. Der prinzipiellen Argumentation des ansonsten glänzend geschriebenen Buches tut der Verzicht auf diese Passagen keinen Abbruch.
Hinzu kommt, daß einige der von Keynes präsentierten Zahlen, die zumeist auf Schätzungen und Unterlagen des britischen Schatzamts aus den Jahren 1916 bis 1919 beruhten, überholt sind. Dies ist nicht erst heute so. Schon die Übersetzer Carl Brinkmann und Moritz J. Bonn verspürten 1920 »die Versuchung, durch kleine Abänderungen […] das Buch in jeder Hinsicht mit den Tatsachen der jüngsten Gegenwart in Einklang zu bringen«28, ließen aber schließlich Keynes’ Angaben stehen. Dabei war sich Keynes des oft unausweichlich Spekulativen seiner eigenen Ziffern, das damals aufgrund mangelnder Statistik genauso für die von anderer Seite angesetzten Zahlen galt, im übrigen vollkommen bewußt. So schrieb er etwa im Anschluß an eine zehnseitige Diskussion des Umfangs der deutschen Förderverluste an Steinkohle durch die Gebietsabtrennungen des Versailler Vertrags: »Die Bedeutung des Gegenstands hat mich zu einer etwas ausführlichen statistischen Zergliederung veranlaßt. Es ist klar, daß den dadurch erreichten Zahlen nicht allzu viel Bedeutung beizulegen ist, weil ihre Richtigkeit nur angenommen und zu zweifelhaft ist, aber der allgemeine Charakter der Tatsachen tritt unwiderstehlich hervor.«29 In einer langen Fußnote widmete er sich anschließend noch der Frage, inwieweit die deutsche Braunkohlenerzeugung, die in seinen Berechnungen nicht enthalten sei, als denkbares zukünftiges Substitut für Kohlenverluste möglicherweise mitgezählt werden solle. Der Wiederabdruck derartiger Abschnitte, die bereits von Keynes mit zahlreichen Fußnoten oft auch technischer Art versehen worden sind, hätte somit einen weiteren und umfangreichen Anmerkungsapparat erfordert, den allenfalls ein kleiner Kreis von Spezialisten goutieren würde.
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