Als die deutsche Delegation nach dem Erhalt der Friedensbedingungen im Mai 1919 beklagte, das zarte Pflänzchen der Weimarer Demokratie könne nicht für die Taten des Kaiserreichs haftbar gemacht werden, hielt ihnen Clemenceau die Verträge von Frankfurt 1871 und Brest-Litowsk 1918 entgegen, die ebenfalls jeweils nach Revolutionen den französischen respektive russischen Nachfolgeregierungen vom Deutschen Reich auferlegt worden waren. In Brest-Litowsk hatten die Deutschen allerdings klug auf Reparationen verzichtet. Und ein ganz wesentlicher Unterschied zwischen den Reparationen des Jahres 1871 und denen von Versailles war die Tatsache der durch den Weltkrieg bloß zeitweise unterbrochenen enormen wirtschaftlichen Verflechtung der europäischen Industrienationen. Von dem Ausmaß der industriellen Grenzüberschreitung und des ökonomischen Internationalismus in der Welt vor 1914 macht man sich gemeinhin keine Vorstellung: Tatsächlich ist der weltwirtschaftliche Globalisierungsgrad, der die europäisch dominierte Wohlstandsepoche in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg auszeichnete, bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts, also in unseren Tagen, noch nicht wieder erreicht worden.
Zwar hatte schon 1873 die von Frankreich unter dem Druck der deutschen Besatzung bewerkstelligte vorzeitige Rückzahlung seiner Kriegsreparationen in Deutschland eine Wirtschaftskrise ausgelöst, den sogenannten Gründerkrach. Das Reparationsregime der zwanziger und dreißiger Jahren aber sollte weitaus komplexere Wechselwirkungen hervorrufen. Insbesondere im industriellen Herzland Europas, vom Ruhrgebiet über Luxemburg bis nach Lothringen und an die Saar reichend, wurde dies nicht erst während der Ruhrkrise von 1923 deutlich, als die von der Ruhrkohle abhängigen belgischen und französischen Stahlwerke mangels Lieferungen aus Deutschland schließen mußten. Der ökonomische Zwangszusammenhang, das war Keynes’ zentraler Punkt, unterschied nicht zwischen Siegern und Besiegten und scherte sich auch sonst nicht um politische Ziele und Wunschvorstellungen. So waren etwa die im Reparationsplan festgelegten deutschen Kohlelieferungen für das kriegsversehrte Frankreich und Belgien zwar notwendig, sie bedeuteten aber zugleich eine unliebsame Konkurrenz für die britische Exportkohle. Und die Konfiszierung deutscher Handelsschiffe brachte Großbritannien und den USA im Sommer 1919 zwar einen gewissen Ausgleich ihrer Kriegsverluste durch den deutschen U-Boot-Krieg. Mittelfristig aber trug der Zwang zum Neuaufbau der Tonnage in Deutschland selbst mit zu jenem industriellen Wiedererstarken bei, das Großbritannien und Frankreich durch die Reparationen just hatten verhindern wollen.
Daß mit den Reparationen tief und störend in die europäischen Wirtschaftskreisläufe eingegriffen würde, war auch den Siegermächten schon 1919 deutlich. Und ihnen war ferner klar, daß Deutschland größere Zahlungen nur erwirtschaften konnte, indem es die anderen Länder mit Billigexporten überfluten und zugleich die eigenen Importe stark reduzieren, als Absatzmarkt also weitgehend ausfallen würde. »Das Problem«, faßte der amerikanische Vertreter in der Reparationskommission ein inter-alliiertes Spitzengespräch im Juli 1919 zusammen, »ist daher nicht so sehr, was Deutschland bezahlen kann, sondern inwieweit sich die Alliierten Deutschlands Zahlungen überhaupt leisten können«18. Doch das Versprechen an ihr Wahlvolk, daß Deutschland die Zeche bezahle, konnten Großbritannien und Frankreich ebenfalls nicht ignorieren. In der Presse wie in den Kommissionen wurden astronomische Tributhöhen diskutiert. Aus diesem Dilemma heraus entstand mit Artikel 231 des Versailler Vertrags der fatale »Kriegsschuldparagraph«, um das Vergeltungsbedürfnis vor allem der britischen homefront zu bedienen. Die Schadenersatzforderungen an die Verlierernation wurden nicht, wie seit jeher üblich, mit ihrer Niederlage begründet, sondern zur gerechten Strafe für einen Schurkenstaat erklärt. In der deutschen Übersetzung noch schärfer formuliert als im Original, sollte die Kriegsschuldfrage die innenpolitische Atmosphäre der Weimarer Republik dauerhaft vergiften. Das Geld kam erst nach der Moral: Im Folgeartikel 232 wurde die zuvor umfassend formulierte, mithin theoretisch unbegrenzte Reparationspflicht Deutschlands in einem ausführlichen Annex tatsächlich nur für Zivilschäden spezifiziert.
Am Ende blieb die Summe offen. Dies war vor allem der Eifersucht zwischen den beiden Alliierten geschuldet, die sich untereinander weder über den Umfang noch über den Verteilungsschlüssel künftiger Reparationszahlungen einigen mochten. Dabei sprach, auch angesichts der Waffenstillstandsbedingungen, für die französische Forderung, dem Wiederaufbau der von den Deutschen zerstörten Gebiete Vorrang zu geben, weitaus mehr als für das Bemühen Lloyd Georges, den britischen Anteil am Reparationskuchen durch die Hereinnahme von Pensions- und Unterhaltsansprüchen von Kriegswitwen und Soldatenfamilien künstlich aufzublähen. Angeregt zu diesem mehr als fragwürdigen Schritt wurde Lloyd George vom südafrikanischen General Smuts. Ironischerweise machte Smuts wenig später vor allem durch seine lautstarke Mißbilligung des Friedenswerks, das er gleichwohl unterschrieb, von sich reden. Ihm, der Keynes hartnäckig drängte, seine kritischen Gedanken publik zu machen, verdankt sich auch die Entstehung von Keynes’ Versailles-Buch.
Kam man in Paris aus der Klemme zwischen wirtschaftlichen Zwängen und dem Druck der öffentlichen Meinung schon nicht heraus, entschied man sich nun für die schlechteste aller Lösungen, den Aufschub des Problems. Zusätzlich zu einer anfänglichen Zahlungsverpflichtung über 20 Milliarden Goldmark unterschrieb Deutschland mit dem Versailler Vertrag gewissermaßen einen Blankoscheck. Der Vorschlag stammte ausgerechnet von Keynes, der angesichts der bizarren Höhe der von seinen Erzfeinden in der britischen Delegation vorgelegten Zahlen hoffte, daß den Politikern später ökonomischer Verstand zuwachsen würde. Sein Versailles-Buch, in dem er Deutschlands Zahlungsfähigkeit auf allenfalls 40 Milliarden Goldmark bezifferte, verstand sich nicht zuletzt als Argumentationshilfe. Aber er wurde enttäuscht: Im Mai 1921 wurde die deutsche Reparationsschuld schließlich auf 132 Milliarden Goldmark festgelegt – etwa das Dreifache des Bruttosozialprodukts, das ein größeres und reiches Deutschland einschließlich seiner Kolonien im Vorkriegsjahr 1913 erzielt hatte.
In der Zwischenzeit aber schwanden dem Land, das man später melken wollte, sowohl die Kreditwürdigkeit als auch der Glaube an sich selbst. Die deutsche Inflation, die 1923 in Hyperinflation und Währungszusammenbruch endete und als existentielle Entwertungserfahrung die Bevölkerung nachhaltig traumatisierte, war zwar zum Teil hausgemacht und politisch gewollt, da sie das Abschreiben der Kriegsschulden und den Export unterstützte, aber eben nur zum Teil. Denn daß der Dollar schon bis Ende 1919 gegenüber der Mark rund 465 Prozent zugelegt hatte, spiegelte vor allem den Pessimismus der Währungsspekulanten hinsichtlich Deutschlands Zukunft im Gefolge des Versailler Vertrags. Im Ausland hingegen überwog zunächst noch ein fester Glaube an deutschen Fleiß und deutsche Tatkraft. Im März 1920 stabilisierte sich die Mark vorübergehend gegenüber dem Dollar, nachdem Millionen von Kleinanlegern in Europa und den USA über Monate Milliarden von deutscher Papiermark erworben hatten. »Wir leben vom Kredit früherer Jahrzehnte«19, versuchte sich der Hamburger Privatbankier Max Warburg das seltsame Phänomen zu erklären. John Maynard Keynes hatte denn auch in der Annahme, daß die ökonomischen Folgen des Friedensvertrages sofort und durchgehend seiner Vorhersage entsprechen würden, in Währungstermingeschäften konsequent gegen die Mark und auf den Dollar gesetzt. Durch die abweichende Spekulationsblase aber verlor er die seinerzeit gewaltige Summe von mehr als 13000 Pfund Sterling eigenen Geldes sowie weitere 8500 Pfund, die er für Freunde investiert hatte. »So wenig verstehen Banker und Dienstmädchen von Geschichte und Wirtschaft«20, seufzte Keynes im Rückblick. Tatsächlich sollte er sich mit seiner Prognose nur kurzfristig verspekuliert haben.
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