1 ...8 9 10 12 13 14 ...22 Die verstärkte Beschäftigung mit der Photographie folgt also in den meisten Fällen aus äußeren Bedingungen, etwa der Verfugung über ein bestimmtes Einkommen und dem damit verbundenen Lebensstil, und nicht aus einer eigenständigen Modifikation der Praxis. Allerdings, obschon die familiale Funktion der Photographie mehr oder weniger vollständig und je nach Einkommen auf unterschiedlichem Niveau wahrgenommen werden kann, geschieht dies allemal nur zu bestimmten Gelegenheiten und in Gebrauchsformen, die im allgemeinen wenig intensiv sind und gegenüber ästhetischen Intentionen gleichgültig bleiben. Da die soziale Norm sowohl das festlegt, was photographiert werden muß, als auch das, was photographiert werden darf, könnte die Skala des Photographierbaren nicht unendlich erweitert werden, und mit dem Verschwinden der photographischen Anlässe müßte auch die Praxis selbst verschwinden. Nun läßt sich tatsächlich das Photographierbare nicht unbegrenzt photographieren, und außerhalb des Photographierbaren gibt es sozusagen »nichts zu photographieren«. Beispielsweise scheinen die Bauern von Lesquire die Motive in ihrer Alltagsumgebung, von den Kindern einmal abgesehen – und auch das erst seit einigen Jahren –, nicht für wert zu erachten, sie mit der Kamera aufzunehmen: Was man täglich vor Augen hat, photographiert man nicht.
»Also wenn du z.B. eine Reise machst, dann lohnt es sich auch, Photos zu machen. Aber unsereiner, was sollen wir schon photographieren? Die Hauptstraße? Oder spielen: photographierst du mich, photographier ich dich? Ach was, das bringt nichts ein!« »Was meinst du, wer hier Lust hat, zu photographieren? Man hat sich schon zu oft gesehen. Immer dieselben Gesichter, den ganzen Tag! Man kennt sich mittlerweile bis zum Überdruß. 150 Leute, die auf der Stelle treten, ohne eine Möglichkeit der Verbindung nach außen. [...] Es sind hauptsächlich die Fremden, die Ansichtskarten in den Kasten werfen. Die Leute am Ort verschicken bestenfalls Karten mit dem Bild eines Zechers und der Unterschrift ›Grüße aus Lesquire‹ oder auch ›Lesquire, das Dorf der guten Weine‹. Aber Ansichten von unserem Ort? Ausgeschlossen!«
Die extreme Enge und Kompaktheit der Lebenswelt, der Umstand, daß das Erwachsenendasein sich in demselben Rahmen abspielt wie die Kindheit, schließen Fremdheits- und Befremdlichkeitsgefühle aus, jene leichte Verunsicherung, die dazu führt, die Dinge der Umwelt neu wahrzunehmen. Der Tourist und der Fremde rufen Erstaunen hervor, wenn sie die alltäglichen Gegenstände oder Menschen photographieren, die ihrer gewohnten Beschäftigung nachgehen. »Was, Sie photographieren diese Tür! O Gott, am Ende glauben Sie vielleicht, daß wir sie nicht beachten. Im Gegenteil! Sie ist schön!« Die vertraute Umgebung ist das, was man immer gesehen, aber nie wirklich wahrgenommen hat. Allenfalls ist man bereit, sein Haus zu photographieren oder photographieren zu lassen, nachdem man es renoviert oder geschmückt (an einem Feiertag beispielsweise), d. h. festlich hergerichtet hat, genauso wie man seinen Sonntagsstaat anlegt, wenn man sich im Atelier photographieren läßt.
»Wenn das Haus schön wäre, die Zimmer netter gerichtet, die Felder in voller Frucht wären, mit schönen Bäumen und prächtigem Vieh. [...] Aber das ist jetzt nicht die Zeit: Die Felder sind kahl und die Kühe abgemagert.«
Man trifft zwar so gut wie niemals einen Photographen, der nicht der Familienphotographie den ihr gebührenden Platz einräumte; doch gibt es viele unter ihnen, die der Photographie noch andere Sinnvarianten zuschreiben, freilich bloße Abwandlungen der archetypischen Gebrauchsweise. Unstreitig ist die Intensivierung der photographischen Praxis eng verknüpft mit Ferienzeit und Tourismus. Doch daraus darf weder gefolgert werden, daß die Urlaubs- oder Reisebilder nicht mit der familialen Funktion der Photographie erklärt werden könnten, noch daß bereits die Vervielfachung der Anlässe des Photographierens eine Praxis begründete, die mit neuen Bedeutungen ausgestattet wäre. 30Daß von denen, die in Urlaub fahren, mehr photographiert wird als von denen, die zu Hause geblieben sind, liegt sicherlich zum Teil daran, daß die Praxis der Photographie ebenso wie die Möglichkeit, zu verreisen, von der Höhe des Einkommens abhängt, aber auch und vor allem daran, daß der Urlaub zu den »hohen Zeiten« des Familienlebens zählt. Wenn allerdings Unterschiede in den objektiven Anlässen für Photoaufnahmen, die beispielsweise mit der Dauer oder dem Ort der Ferien zusammenhängen, keine nennenswerte Änderung in der Intensität der modalen Praxis nach sich ziehen, so darum, weil diese weniger von Anregungen etwa durch die Schönheit einer Landschaft oder die Verschiedenartigkeit der besuchten Orte abhängt als von gesellschaftlich definierten Anlässen. 31In dem Maße, wie die Ferien Gelegenheit zur Intensivierung der Familienbeziehungen (z.B. für alle, die ihren Urlaub mit der Familie verbringen wollen) und zu vermehrter Geselligkeit mit Freunden bieten, beflügeln sie auch die photographische Praxis, wobei freilich die in dieser Zeit aufgenommenen Bilder in der Regel ebenfalls Familienphotos, allerdings in Urlaubskonstellationen sind. 32Zwar erweitern die Ferien das Spektrum des Photographierbaren und fördern die Neigung zum Photographieren; aber diese Neigung ist nicht qualitativ verschieden von der traditionellen, sondern deren bloße Verlängerung: Eine Praxis, die so eng mit außeralltäglichen Anlässen verwoben ist, daß man sie für eine Technik des Festlichen halten könnte, muß sich notwendig in einer Periode verstärken, für die der Bruch mit der vertrauten Umwelt und mit den Routinen des regulären Daseins charakteristisch ist. Wer in eine quasi-touristische Haltung schlüpft, der entzieht sich dem Verhältnis achtloser Vertrautheit zur alltäglichen Welt, jenem unscharfen Hintergrund, vor dem sich die Formen abzeichnen, die für eine kurze Zeitspanne die Alltagssorgen ausblenden. Nun wird alles zu einer Quelle des Staunens, und der Reiseführer, der ständig zum Bewundern anhält, dient als Leitfaden einer gewappneten und geleiteten Wahrnehmung. 33Photographieren ist etwas, was man während der Ferien tut, und es ist zugleich das, was die Ferien ausmacht: »Ja, das ist meine Frau, die da die Straße entlanggeht; aber sicher, das war im Urlaub, da haben wir dieses Photo gemacht.« (Angestellter aus Paris, 28 Jahre, der sein Familienalbum zeigt.) Indem man noch die nebensächlichsten Orte und Augenblicke im Bild festschreibt, verwandelt man sie in Monumente der Muße: Das Photo soll und wird auf ewig bezeugen, daß man Muße gehabt hat und überdies die Muße, sie ins Bild zu bannen. Die Photographie, die die vergängliche Ungewißheit subjektiver Eindrücke durch die endgültige Gewißheit eines objektiven Bildes ersetzt, ist wie dazu geschaffen, als Trophäe zu fungieren. Während die bekannte alltägliche Umgebung niemals mit der Kamera aufgezeichnet wird, erscheinen Landschaften und Baudenkmäler auf den Ferienphotos als Schmuck oder als Zeichen. Das Photo in seiner allgemeinen Gestalt fixiert die ganz besondere Interaktion (obgleich diese unter identischen Umständen von tausend anderen ebenfalls erlebt werden kann) zwischen einer Person und einem sanktionierten Ort, zwischen einem außergewöhnlichen Augenblick des Lebens und einem durch seinen hohen symbolischen Wert außergewöhnlichen Ort. Der Anlaß der Reise (die Flitterwochen) erhebt die besuchten Orte in den Rang von feierlichen Stätten, und die eklatantesten von ihnen lassen wiederum den Anlaß der Reise noch feierlicher erscheinen. Von einer »wirklichen Hochzeitsreise« spricht man erst dann, wenn sich das Paar vor dem Eiffelturm hat photographieren lassen, denn Paris, das ist der Eiffelturm, und eine »wirkliche Hochzeitsreise« führt eben nach Paris. Eins der Bilder aus der Sammlung von J.B. wird in der Mitte durch den Eiffelturm geteilt, zu dessen Füßen die Frau von J. B. steht. Was uns wie Barbarismus oder Barbarei vorkommt, ist in Wahrheit die vollständige Verwirklichung einer Intention 34: Die beiden Objekte, dazu bestimmt, sich gegenseitig zu erhöhen, sind genau in der Mitte des Bildes plaziert, und Zentrierung und Frontalität sind in der Tat die wirkungsvollsten Mittel, dem festgehaltenen Objekt Bedeutung zu verleihen.
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