Wir wollen die Umkehrung nicht zu weit treiben, doch die Beobachtung lehrt, daß gegenüber der Familienphotographie, Zeichen und Mittel der Integration in einem, die durch die Negation des familialen Gebrauchs definierte Photographie häufig eine geringer ausgeprägte Integration in die Familiengruppe oder den Beruf verrät, während sie andererseits bisweilen diese schwache Integration verstärkt, indem sie sie zum Ausdruck bringt. So ranken sich die kleinen Ehedramen mit wechselseitigen Vorwürfen (bei denen man sich halb scherzhaft, halb ernsthaft gegenseitig neckt) oft um die mit besonderer Hingabe betriebene Photographie:
»Natürlich paßt das meiner Frau überhaupt nicht«, erklärt ein Vorarbeiter, Mitglied eines Photoklubs. »Also heute abend z.B. bin ich bereits zu spät dran und weiß schon jetzt, was ich zu hören kriege: ›Du mit deiner Photographie!‹ Wissen Sie, die meisten Frauen können mit der Photographie nichts anfangen.«
Daß zahlreiche passionierte Amateure kategorisch auf einer Trennung der Geschlechter je nach photographischen Aufgaben und Interessen bestehen, daß sie sich eifersüchtig die anspruchsvollen Anwendungsgebiete vorbehalten und ihren Frauen lediglich die traditionellen überlassen, für die sie ihrer »Weiblichkeit« wegen »prädestiniert« seien, läßt erkennen, wie sehr die als Liebhaberei aufgefaßte Photographie, deren ästhetisches Credo sich, vor allem in den weniger gebildeten Schichten, oft auf die Absage an die Familienphotographie reduziert, aus ebendemselben Grund nach einer Komplementärpraxis verlangt, die der Frau reserviert wird und ausschließlich familialen Zwecken gehorcht.
Tatsächlich findet der ambitionierte Photograph eine – wenn auch noch so eingeschränkte – Definition seines Vorhabens in der Absage an die rituellen Objekte der Alltagsphotographie. Wenn man sich vergegenwärtigt, daß der Photoapparat fast immer Gemeinschaftseigentum ist, das unterschiedslos von den Gruppenmitgliedern in gemeinsamem Gebrauch genutzt wird, dann wird deutlich, daß der autonome Gebrauch der Kamera den Sinn eines Bruchs mit dem Gemeineigentum annimmt: Die Negation der Familienphotographie bedeutet wennschon nicht die Leugnung des Wertes der Familie überhaupt, so doch immerhin eines der Familienwerte, indem man sich weigert, dem Familienkult zu huldigen. Und das Verhalten des Fanatikers, der sich lange bitten läßt, bis er endlich eine Aufnahme von den Kindern macht, obwohl er viele Stunden zurückgezogen in der Dunkelkammer verbringt, steht dem Verhalten des Photographen, der feierlich und öffentlich dem Familienkult huldigt, in derselben Weise gegenüber, wie – soziologisch ausgedrückt – die Magie der Religion.
Nach alledem überrascht es nicht, daß die Saisonkonformisten und die passionierten Amateure zwei statistische Gruppen mit gänzlich entgegengesetzten Merkmalen bilden: Engagierte Photographen finden sich häufiger unter den Unverheirateten, in kinderlosen Familien und bei den Jüngeren (vor allem im Alter von 18 bis 20 Jahren), d.h., in den Gruppen und Schichten, in denen die Gelegenheitsphotographen am schwächsten repräsentiert sind, so als ob diese Passion ein um so günstigeres Terrain hätte, je weniger sich der Druck der traditionellen Funktionen bemerkbar macht. 41
Zwar liegt der Anteil der Photoamateure bei den Unverheirateten niedriger als bei den Verheirateten, aber dafür nimmt die Praxis bei ihnen in der Regel sehr viel engagiertere Züge an. Sie sind weniger geneigt, die Photographie in den Dienst traditioneller Funktionen zu stellen, und unterscheiden sich im Hinblick auf ästhetische Intentionen von den Verheirateten eklatant in ihrer photographischen Praxis. Beschreibt man unter Rückgriff auf die Terminologie Durkheims zur Charakterisierung unterschiedlicher Typen des Selbstmords die Praxis dieser Photographie als »anomische«, so wird klar, daß es müßig wäre, die Ursachen oder Bedingungen dieser Passion in den immanenten Merkmalen statistischer Gruppen zu suchen, bei denen sie am häufigsten auftritt. Tatsächlich ist die Korrelation gerade negativ, da die ambitionierte Praxis, die Negation der allgemeinen Praxis, überall da (ex negativo) vorgezogen wird, wo der Druck der familialen Funktion nachläßt, und umgekehrt. Während der positive Einfluß der Integration sich in positiven Indikatoren äußert (etwa im Besitz einer Kamera), werden die Determinanten der ambitionierten Praxis erst dann in vergleichbarer Weise sichtbar, wenn ihre Wirkung erlischt: So sinkt der Anteil der Mitglieder von Photoklubs sehr stark mit der Eheschließung. Obwohl die Erfüllung traditioneller Funktionen der Photographie jedermann abgefordert wird (unabhängig von seiner ökonomischen oder sozialen Lage), einzig aufgrund der Integration in die Familie, so bleibt doch wahr, daß die Bedeutung, die der Einzelne der photographischen Praxis beimißt, vom System der impliziten Gruppenwerte abhängt, das die passenden Mittel und Wege bestimmt, um diese Funktionen erfüllen zu können. Wenngleich diese »Normen« 42sich innerhalb der städtischen Gesellschaft minder einschneidend bemerkbar machen als in der ländlichen Umgebung, überläßt die Gruppe die allgemeine Praxis bloß scheinbar der individuellen Phantasie. So kann man zwar die ambitioniertesten Photographen objektiv durch ihre Zugehörigkeit zu bestimmten statistischen Gruppen charakterisieren; aber wenn sie sich als solche verstehen, beziehen sie sich nicht auf diese abstrakten Kategorien, sondern auf ökonomisch und sozial definierte Gruppen. Engagement und Fanatismus können je nach der wirtschaftlichen und sozialen Lage, innerhalb deren oder gegen die sie sich ausbilden, völlig verschiedene subjektive und objektive Bedeutungen annehmen, denn sie binden ihren Stil und ihre Form der Orientierung implizit oder explizit an diese Lage.
Die verschiedenen sozialen Schichten ermutigen zur Beschäftigung mit der Photographie in unterschiedlicher Weise. Das läßt sich z.B. daran ablesen, daß der Anteil derjenigen, die zwar noch keinen Apparat besitzen, aber die Absicht hegen, eine Kamera zu erwerben, in folgender Reihe relativ gleichmäßig ansteigt: Handwerker und Kleinhändler (12,5%), Arbeiter (16,6%), Selbständige und leitende Angestellte (20%) und schließlich mittlere Angestellte und Beamte (25%). Die ausgeprägte Häufigkeit geplanter Käufe bei den mittleren Angestellten ist aufschlußreich, da diese Schicht nicht das höchste Einkommen bezieht und die Kaufabsicht die Resultante aus einem gruppenspezifischen Anspruch einerseits und den finanziellen Möglichkeiten andererseits ist. Tatsächlich werden die Unterschiede noch deutlicher, wenn diese Absicht unbefangener und ohne ausdrücklichen Hinweis auf die Mittel und deren Kosten zum Ausdruck kommt. Die bewußte und entschiedene Absage an die Photographie findet sich am häufigsten bei den leitenden Angestellten und den freien Berufen, ebenso bei der Gruppe der Handwerker und Kleinhändler, während das photographische Interesse bei den Arbeitern, bei den mittleren und vor allem den niederen Angestellten überaus stark ausgeprägt ist. Auch wenn man den Absichten und Absichtserklärungen einen jeweils spezifischen Sinn unterlegen muß, auch wenn deren Modalität in den einzelnen Schichten erhebliche Abweichungen aufweist, da sie von der verbalen Beteuerung über die unentschlossene Konformität mit der impliziten »Norm« der Gruppe bis zum festen Vorsatz reichen, so verraten diese Antworten doch ziemlich klar den Wert, den jede Gruppe der Photographie zuschreibt: Erst die höfliche Zustimmung erschließt über die vorgebrachten Gründe die Stellung der Photographie innerhalb des Wertesystems, denn sie setzt in gewissem Maße ein dumpfes Bewußtsein von der Notwendigkeit der Zustimmung voraus.
Diese »Norm«, die sich in der modalen Praxis oder Meinung kundtut, ohne daß man sie deswegen mit einer »Mode« vergleichen dürfte – schuldet sie doch ihre Dauerhaftigkeit dem Umstand ihrer Verwurzelung in den Werten der Gruppe –, regelt auch die Einstellungen der Jugendlichen, die in ihrer Mehrzahl der Photographie denselben Platz einräumen wie ihre soziale Gruppe. Da das Ethos das Verhalten zwar anleitet, aber nicht explizit bestimmt, und da die von ihm objektiv auferlegten Regeln als solche nicht ins Bewußtsein der Subjekte treten, selbst wenn diese sich in ihren konformen oder abweichenden Verhaltensweisen objektiv daran orientieren, können sich die diffusen Werte innerhalb einer Gruppe fortpflanzen, ohne daß es nötig wäre, zur Ordnung zu rufen. So läßt sich denn am Beispiel der Photographie gut beobachten, wie die klassengebundenen Werte ohne jede Unterweisung übermittelt werden können. Obwohl die Photographie kein Bestandteil eines institutionalisierten Unterrichtssystems ist und keinerlei prompte und unmittelbare gesellschaftliche Rentabilität verheißt, obgleich sie, im Gegensatz zu subtileren kulturellen Aktivitäten wie dem Spielen eines Musikinstruments oder dem Besuch von Museen, niemals verordnet, ja nicht einmal durch das Beispiel anderer angeregt wird, variiert der Anteil der Kinder, die photographieren, innerhalb der verschiedenen Berufsgruppen in derselben Weise wie der Anteil der erwachsenen Photoamateure, wenn man einmal unberücksichtigt läßt, daß photographische Praxis bei den Kindern leitender Angestellter anscheinend häufiger ist als bei denen der mittleren Angestellten. 43Diese Anomalie ist leicht zu erklären: Abgesehen davon, daß die leitenden Angestellten, die ja über ein relativ hohes Einkommen verfügen, ihren Kindern eher eine aufwendige Ausrüstung sowie jene teuren Freizeitvergnügen bieten können, an die die Photographie häufig gebunden ist (beispielsweise Reisen), hängen sie offenkundig der weitverbreiteten Vorstellung an, daß die Photographie, weit davon entfernt, dem Erlernen erhabener Kunstfertigkeiten Konkurrenz zu machen, die Aufgabe einer künstlerischen Propädeutik übernehmen könne, da sie, alles in allem, in einem Zeitalter der flüchtigen Interessen eine der minder oberflächlichen Zerstreuungen darstelle.
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