1 ...6 7 8 10 11 12 ...22 Das Photo selbst ist in den allermeisten Fällen nichts anderes als eine Reproduktion des Bildes, das der Gruppe von ihrer Integration. Unter den Photographien, auf denen Personen abgebildet sind, zeigen fast drei Viertel Gruppen und mehr als die Hälfte Kinder, allein oder gemeinsam mit Erwachsenen; Photos, auf denen Kinder zusammen mit Erwachsenen erscheinen, verdanken ihre Häufigkeit und ihr feierliches Aussehen (das sich vor allem in der konventionellen Starrheit der Posen ausdrückt) dem Umstand, daß sie das Bild des Familiengeschlechts festhalten und symbolisieren. 20
Da sie das Objekt einer kollektiven und quasi-zeremoniellen Betrachtung herzustellen vermag, verlängert vor allem die Farbphotographie das Fest, an dem sie teilnimmt und dessen Bedeutung sie signalisiert. Der festliche Gebrauch, den man vom Festbild macht, haftet diesem wie ein Signum an und inspiriert seine Genese 21; gerade weil sie wie dazu geschaffen ist, als Technik des Festes oder, genauer gesagt, als Technik der Wiederholung des Festes zu dienen, hält sie die eklatant euphorischen und euphorisierenden Augenblicke fest, den Walzertanz der Schwiegermutter oder die »unbezahlbaren Spaße der Stimmungskanone«. Selbst außergewöhnlich, erfaßt sie außergewöhnliche Gegenstände, die »schönen Augenblicke«, die sie in »schöne Erinnerungen« verwandelt. In ritueller Weise mit dem Fest, mit der Familienzeremonie oder dem Freundestreffen verknüpft, steigert sie den Eindruck des Festes als außergewöhnliches Ereignis, indem sie ihm dieses Opfer des Außergewöhnlichen gewährt. Sie wird schon jetzt so erlebt, wie sie später einmal betrachtet werden wird, und der schöne Augenblick kommt als solcher durch sie besser zum Vorschein, weil sie sichtbar macht, was er recht eigentlich ist: eine schöne Erinnerung. Sie wird später so »gelesen« werden, wie man sie erlebt hat, unter Gelächter und Scherzen, die dem Gelächter und den Scherzen des Festes eine längere Dauer verleihen. 22Und wenn sie sich in aller Regel auf ein bloßes Zeichen reduziert, entzifferbar lediglich für denjenigen, der über den Schlüssel dazu verfügt, dann deshalb, weil das Fest etwas ist, was man aus nichts oder mit Nichtigkeiten macht oder schafft, vom Augenblick der Entscheidung an, in festlicher Stimmung zu sein. Daher behält man von ihm häufig auch nur die Erinnerung, in festlicher Stimmung gewesen zu sein. Das Photo hält diese Erinnerung fest, in den meisten Fällen wüßte man nicht zu sagen, worüber und warum man gelacht hat. Es bezeugt zumindest, daß man herzlich gelacht hat. 23
Als Instrument der feierlichen Überhöhung kann die Photographie selbst dem symbolischen Sakrileg einen komischen sakralen Charakter verleihen. So kann das Photographieren der Frau eines Freundes in einer lächerlichen oder gar unschicklichen Haltung das Gelächter verdoppeln, da dies darauf hinausläuft, in der Umkehrung der Normen, gegen alle Gebote des Anstandes, einen Verstoß gegen die Regeln der Schicklichkeit zu feiern, der die lockere, aber gleichwohl geordnete Struktur des Festes zum Ausdruck bringt und damit zugleich verstärkt. Deshalb muß man sich davor hüten, in den Albereien vor dem Photographen oder in den Photographien der Albereien ein Indiz für den Verlust des sakralen Charakters der Photographie zu sehen; sie sind vielmehr bewußte Barbarismen, die ihre komische Wirkung ihrer Eigenschaft als rituelles Sakrileg verdanken. Als Technik der feierlichen Erhebung oder Technik des Festes und allemal Technik der feierlichen Erhebung des Festes wird die Photographie in dem Maße unentbehrlich, wie sich mit der Zersplitterung der großartigen Feierlichkeiten, mit dem Verschwinden der öffentlichen Zeichen eines Festes, die dem Gefühl, in feierlicher Stimmung zu sein, den Anschein einer objektiven Begründung geben konnten, das Fest (Geburts- oder Namenstag) zunehmend als etwas Beliebiges und Willkürliches verrät, da die Familiengruppe dazu verurteilt ist, es in autarker Weise zu erleben. Mithin wird dem Unternehmen der feierlichen Erhebung, dem die Photographie dient, wahrscheinlich nur dann Erfolg beschieden sein, wenn es einem Mitglied der Gruppe überantwortet wird, das wie alle anderen darauf bedacht ist, zu vergessen und vergessen zu lassen, daß es nur dann ein Fest gibt, wenn man es »macht«, und weil man sich dazu entschließt, eines zu »machen«. Von dem Augenblick ab, da die Teilnahme am Fest dieses insgeheime Einverständnis voraussetzt, das nur die Teilhabe an der Gruppe gewährleisten kann, muß der Fremde zum Störenfried werden. Während der Bauer eine Praxis verwirft, die seinem Wertesystem widerspricht, und einem gruppenfremden Spezialisten die Aufgabe überträgt, ein Ritual zu vollziehen, zu dem die gesamte Dorfgemeinde aufgerufen ist, überträgt die auf sich selbst verwiesene Familie in der Stadt den Vollzug des rituellen Hauskults einem Mitglied der Familie, gewöhnlich deren Oberhaupt. 24Als einzige Primärgruppe, die in der städtischen Gesellschaft ihre Geschlossenheit und Beständigkeit bewahren kann, behauptet sich die reduzierte Familie, mehr und mehr ihrer traditionellen – ökonomischen wie sozialen – Funktionen beraubt, indem sie Zeichen ihrer emotionalen Einheitlichkeit, d. h. ihrer Intimität, anhäuft. »Früher«, schreibt Durkheim,
»war die Hausgemeinschaft nicht nur eine Vereinigung von Individuen, die miteinander durch die Bande gegenseitiger Zuneigung verbunden waren; sie war auch die Gruppe selbst, in ihrer abstrakten und unpersönlichen Einheit. Es war der ererbte Name mit allen Erinnerungen, die mit ihm zusammenhingen, das Elternhaus, die Stätte der Ahnen, seine Lage und sein überlieferter Ruf und noch mehr. Alles dies ist im Verschwinden begriffen. Eine Gesellschaft, die sich in jedem Augenblick auflöst, um sich an anderer Stelle wieder zu bilden, aber unter ganz anderen Bedingungen und aus ganz anderen Elementen, hat nicht genügend Kontinuität, um sich ein besonderes Gepräge zu schaffen, keine eigene Geschichte, mit der sie ihre Mitglieder an sich binden könnte.« 25
Ist es da nicht ganz natürlich, daß der Photographie allmählich die Aufgabe zuwächst, das Familienerbe gleich einem Schatz zu bewahren? Mag auch die Anhäufung langlebiger Konsumgüter wie Kühlschränke, Waschmaschinen oder Fernsehgeräte dazu beitragen, den Eindruck der Familieneinheit zu stützen, so kann der Erwerb dieser Massenprodukte doch das Gefühl der Intimität niemals so uneingeschränkt befestigen wie die photographische Praxis, die häusliche Herstellung häuslicher Embleme. In der Tat bestätigt die Photographie innerhalb der erheblich reduzierten Skala familiärer Produktionstätigkeiten besser als die Gärtnerei oder das »hausgemachte« Gebäck, fiktive Zugeständnisse an die Sehnsucht nach Autarkie, besser als das Heimwerken oder die Befriedigung einer Sammelleidenschaft (was diejenigen von der Gruppe isoliert, die daraus ihr Steckenpferd machen) die Kontinuität und Integration der häuslichen Gruppe und festigt beide, indem sie sie zum Ausdruck bringt.
Die Scheidung zwischen den Themen, die in die Zuständigkeit des Berufsphotographen fallen, und denen, die von den Amateuren in der Familie Photographien werden, besteht nicht zufällig. 26Beispielsweise wendet man sich in einem kleinen Marktflecken im Süden Korsikas, wo sich die Praxis der Photographie in dem Maße verbreitet hat, wie die urbanen Werthaltungen Einlaß fanden, nach wie vor an den Berufsphotographen, um die festlichen Ereignisse (Hochzeit und Erstkommunion) und deren hohe Augenblicke festzuhalten. Dasselbe gilt für die Porträts der Kinder. Kurz, den Ausschlag gibt jeweils, ob ein Moment der Intimgeschichte der Person oder ihr gesellschaftlicher Aspekt aufgezeichnet werden soll. So stehen etwa den von Amateuren aus der Familie aufgenommenen Bildern, die die Etappen einer besonderen Kindheitsgeschichte dokumentieren, die konventionellen Photographien der Erstkommunion gegenüber, die im Atelier hergestellt wurden. 27Das heißt, die Durchsetzung der Amateurphotographie in den Familien fällt mir einer präziseren Differenzierung dessen zusammen, was dem öffentlichen Bereich und was der Privatsphäre zugehört. Ein Beleg dafür ist, daß die »großen Porträts«, die man noch eine Generation zuvor in jedem korsischen Haus an den Wänden des Besucherzimmers oder des Wohnzimmers sehen konnte, heute in der Mehrzahl der Haushalte den Amateurphotos Platz gemacht haben, die diskret auf einem Möbelstück aufgestellt werden. Seitdem man von der Photographie verlangt, nicht mehr allein das öffentliche Bild einer Person wiederzugeben, das so wenig individuelle Züge trägt, daß es keiner periodisch wiederholten Aufnahmen bedarf, und das so stark durch soziale Normen bestimmt ist, daß es geradezu prädestiniert scheint, vorgezeigt zu werden, sondern von ihr auch fordert, den vergänglichen Anblick und die besonderen Gesten eines Familienmitglieds aufzuzeichnen, ist die Unterscheidung zwischen Bildern, die der Betrachtung im Kreis der Familie vorbehalten bleiben, und solchen, die man »Fremden« preisgeben kann, unerläßlich geworden. Und sie ist nirgendwo so ausgeprägt wie bei den Leuten, die viele Jahre außerhalb von Korsika verbracht haben. In der Tat entreißt die Emigration die Kernfamilie dem ursprünglichen kollektiven Lebenszusammenhang; sie macht aus jeder individuellen Lebensgeschichte eine Kette von je besonderen Ereignissen, die nicht länger einer Stereotypisierung des Verhaltens unterliegen, wie der Rhythmus des Gemeinschaftslebens sie einschließt. Das Gesetz der unterschiedlichen Kalender gebietet, jene Feierlichkeiten, die es verdienen, daß man sie mit der Gruppe von gemeinsamer Herkunft teilt, von denen zu trennen, die als privat oder intim erscheinen, weil sie im Kalender der Primärgemeinde keinen Ort haben und ebenso verschiedenartig sind wie die Gruppen, in welche die Emigrierten für eine bestimmte Zeit eingebunden waren. Der Wunsch, die Zugehörigkeit zur Familiengruppe durch den Austausch von Photographien zu erhärten, schärft also zugleich den Sinn dafür, daß das öffentliche Leben in den eigenen vier Wänden nicht mehr wie früher in der Dorfgemeinschaft einem einzigen und einheitlichen Kodex von Regeln untersteht.
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