Drittens: Reisen sind Geburtshelfer von Gedanken.Ist es ein Zufall, dass Goethe auf seiner Italienreise die Idee der Urpflanze hatte? Er bekannte: «Dagegen finden wir, dass neue Gegenstände in auffallender Mannigfaltigkeit, indem sie den Geist erregen, uns erfahren lassen, dass wir eines reinen Enthusiasmus fähig sind; sie deuten auf ein Höheres, welches zu erlangen uns wohl gegönnt sein dürfte. Dies ist der eigentlichste Gewinn der Reisen, und jeder hat nach seiner Art und Weise genügsamen Vorteil davon. Das Bekannte wird neu durch unerwartete Bezüge und erregt, mit neuen Gegenständen verknüpft, Aufmerksamkeit, Nachdenken und Urteil.»
Was Goethe beschrieben hat, bestätigt heute die Wissenschaft: Hirnspezialisten haben Enzephalogramme von Reisenden gemacht. Sie entdeckten, dass die bewusste Wahrnehmung des Fremden, von Klima, Landschaften und abwechselnden Jahreszeiten die Hirnaktivitäten stimuliert und zu einem Gefühl des Wohlergehens und zu einem aktiven Leben beitragen.
Reisen sind Geburtshelfer von Gedanken – abseits der gewohnten Pfade entstehen innere Zwiegespräche, reifen Erkenntnisse, die sich wohltuend von dem abheben, was uns der feste Rahmen zu Hause oft zu verstehen gibt. Denn die Person, die wir im Alltagsleben sind, kann sich durchaus unterscheiden von dem, was uns wirklich ausmacht.
Wagen wir also von Zeit zu Zeit eine Wanderung, die uns verwandelt – machen wir eine Reise, die uns auf uns selbst zurückführt und ganz werden lässt. Oder, um es mit den Worten von Basho, dem japanischen Haiku-Dichter des 17. Jahrhunderts, auszudrücken: «Allein unter dem Himmel, das heisst zwei Wanderer.» Denn der Himmel zieht auch mit.
Globetrotter-Magazin 60, Sommer 2001
Wenn in den Adern Globetrotterblut pulsiert, bricht irgendwann das Reisefieber aus
Erfahrungsbericht von einer Langzeitreise 1985/86
Von Claudia Schneider
Bangkok überwältigte: der Lärm, das Chaos, die vielen Menschen. Die thailändische Metropole war der erste Ort, den ich ausserhalb Europas besuchte – die erste Station auf einer Reise, die dann eineinhalb Jahre dauerte. Der Wirrwarr in den Gassen, ungewohnte Düfte, intensive Farben, das feuchtheisse Klima und das Fremde an sich faszinierten, doch die Menschen wirkten noch gestresster und geldgieriger als in der gewohnten Umgebung. Mit 20 Jahren verband ich mit der Weltreise Hoffnungen auf andere, auf bessere Welten.
Auf Ko Samui hatten Tourismus und Prostitution bereits Fuss gefasst. Doch die Nachbarinsel Ko Phangan dümpelte 1985 als manifestierter Globetrottertraum im Südchinesischen Meer: eine bescheidene Palmblatthütte am Strand, die Wärme der Sonne auf der Haut und die der Gastgeber im Herzen. Das genügsame Leben im Überfluss der tropischen Natur beflügelte – speziell im Bewusstsein, dass das Thermometer in der Heimat weit unter 0 Grad liegt. Statt Manuskripte zu tippen, sammelte ich Muscheln.
Auf die Euphorie folgte die Krise
Die Tage auf Ko Phangan verstrichen in einer äusserlich konstanten Harmonie: Kokospalmwedel wiegen anmutig wie Tempeltänzerinnen in der lauen Meeresbrise. Statt Nachrichten schauen die Menschen Sonnenuntergang. Am Morgen klingelt kein Wecker, und es gibt keinen Anlass zu schlechter Laune. Dennoch machte sich nach zwei Monaten Muscheln sammeln eine massive Verstimmung breit. Mein Reisepartner und ich zerstritten uns dermassen, dass er zurückgefahren wäre, hätte er nicht den Spott der Daheimgebliebenen gefürchtet.
Da hatten wir jahrelang gespart, Job, Wohnung, Freunde, alles aufgegeben, und nun war im Paradies die Hölle los. Die Freiheit hatte uns aus der Fassung gebracht. Denn jeder Tag bietet die Möglichkeit, zu bleiben oder weiterzufahren, jeder Tag erfordert erneut den Entscheid, was mit ihm anzufangen ist. Wodurch definiert sich Freiheit? Tun und lassen zu können, was uns gefällt, machte uns jedenfalls nicht frei. Diese Art von Freiheit fühlte sich im Gegenteil ganz unerwartet als Bedrohung an.
Wir rauften uns zusammen und entdeckten neue Welten: Auf Java klagte uns eine Palastführerin, ihre Mutter sei verhext worden. Ein Rikscha-Fahrer outete sich als ehemals politisch Aktiver, der sich nach einem Gefängnisaufenthalt gezwungen sah, fortan zu schweigen. Auf Bali leben die Menschen ganz selbstverständlich mit Hausgeistern, und im australischen Cairns klauten sich Rucksacktouristen gegenseitig Kleider von der Wäscheleine. Die Begegnungen mit Menschen begann uns zu faszinieren, ebenso die Relikte verblasster Hochkulturen, die Stätten der Götterverehrung und die Natur, die Blüten treibt, wie ich sie mir in den kühnsten Träumen nicht hätte vorstellen können.
Verkehrte Welt
Mit jedem Kilometer wurde die Welt relativer. Unsere Reisegenossen im australischen Outback, eine Engländerin und zwei Kanadier, disputierten jedes Mal, wenn’s darum ging, uns ein neues Wort beizubringen: «It’s a torch.» – «No, that’s a flashlight.» Die Mondsichel leuchtet verkehrt herum am überwältigend strahlenden Nachthimmel. Und in Alice Springs meinte ein australischer Gastgeber, nachdem wir alles aufgegessen hatten: «Schön, dann gibts morgen Regen.»
In Sydney mussten wir uns entscheiden: Das Budget für zwei Monate Neuseeland entspricht in etwa dem für fünf Monate Südostasien. Zeit ist Geld, selbst auf Reisen. Cheap, cheap, cheap. Manche Traveller haben es sich zum Sport gemacht, mit möglichst wenig Geld durchzukommen – oftmals auf Kosten anderer. Small Talk unter Rucksackreisenden kreist immer mal wieder ums Geld, wie günstig dies sei, welch ein Halsabschneider jener sei. Erinnert an Gespräche zuhause über Designerklamotten und das neuste Videogerät. Alles gleich, bloss anders herum? Warum sind Menschen auf Reisen?
Ein Schweizer Ehepaar bestellte auf der malaysischen Insel Tioman ausschliesslich Rösti und zählte die Tage, bis sie endlich zurück in die Schweiz fahren konnten. Zur Hochzeit hatten sie sich Round-the-World-Tickets gewünscht, und seit beinahe einem Jahr waren sie pausenlos unterwegs. Vier Tage Schanghai war ihr längster Aufenthalt an einem Ort. Ich wäre unter solchen Umständen zusammengebrochen.
Unterwegs sein
Für mich bedeutet Reisen vor allem Zeit haben. Zeit, sich einzulassen auf sich selbst, auf die Umgebung und auf die Menschen. Die ersten Jahre als Globetrotter stellte ich Vergleiche an. Die Länder entpuppten sich als Persönlichkeiten mit diversen Charaktereigenschaften. Manche haben sich zu Vertrauten entwickelt, mit denen es sich wie mit Freunden verhält. Ich respektiere sie, freue mich über ihre inspirierenden Seiten und bemühe mich um einen versöhnlichen Umgang mit ihren schwierigen Aspekten.
Auf der Rückreise durch Burma, China, Hongkong und die Philippinen zerbröckelte die Illusion einer heilen Welt vollends. Meine eigenen Ansprüche ans Leben wurden bescheidener in materieller Hinsicht, aber anspruchsvoller im Hinblick auf das, was ich leben wollte. Ein Dach über dem Kopf und ausreichend zu essen, die Freiheit, seine Individualität in einer Gemeinschaft zu leben, könnten offenbar als Voraussetzung für Glück ausreichen. Bloss ist die Welt viel komplizierter: Politik, Geschichte, Kultur – Fakten, die aus der Entfernung ziemlich abstrakt wirken – präsentieren sich vor Ort als pralles Leben.
Zwar ähneln sich die McDonalds-Filialen in allen Metropolen zwischen Sydney und Peking, dennoch lebt jeder Ort seinen eigenen Rhythmus. Jeder Ort ist so einzigartig, dass man süchtig danach werden kann, immer wieder neue zu erleben.
Kommt hinzu, dass sich Orte und Grundvoraussetzungen innerhalb kürzester Zeit ändern können: Kaum hatten wir Visa für Papua-Neuguinea besorgt, brachen dort Unruhen aus, die Dutzenden von Weissen das Leben kosteten. In Singapur wurden innerhalb von sechs Monaten ganze Stadtteile dem Erdboden gleichgemacht, um neue Wolkenkratzer hochzuziehen. Miami Beach, vor Jahren noch abgewrackt und gefährlich, hat sich hingegen zu einer attraktiven und relativ sicheren City gemausert.
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