»Nein«, erwiderte das Mädchen, deren schwarze Augen ihn nicht losließen.
Und der Mann fühlte, wohin ihre Gedanken sich wendeten und wie das Wohlgefallen schüchtern von ihr zu ihm hinübertastete.
Da ergriff ihn ein so heftiger Widerwille, der sich mit einer Art von Angst vor jeder Zärtlichkeit mischte, daß er nicht bleiben konnte. Er nahm seinen Hut, riß fast die Tür auf und ging schnell durch den dunklen Korridor, in dem er sich an einem Spinde stieß, hinaus.
Sie folgte ihm bescheiden, gedemütigt und murmelte Worte, die er nicht verstand.
Erst auf der Straße fühlte er sich erleichtert. Und da erst fiel ihm ein, daß er das, weswegen er dieses Haus noch einmal betreten, nicht gefunden, daß er auch das letzte Andenken mit dem kleinen Bilde, das gestohlen oder verlorengegangen war, eingebüßt hatte. Er fühlte sich grenzenlos unglücklich, und in dieser schrecklichen Einsamkeit, die sich so plötzlich über sein Herz gebreitet hatte, verlor er für einen Augenblick all seine Kraft und Energie.
Dann aber biß er die Zähne aufeinander und ging, seine Schritte beschleunigend, immer schneller dahinstürmend, mit finsterem Gesicht seiner Rache nach.
Acht Tage später ging Heinz Marquardt zögernd wieder in sein Bureau. Er hatte gehofft, Direktor Weckerlin würde ihn auch noch weiterhin dispensieren, aber er irrte. Für das Bureau war die Tat geschehen und fast vergessen. Höchstens Maaß interessierte noch. Marquardts ernstes, karges Wesen begriff man wohl – er trug ja Trauerkleidung! –, aber welcher Grund ihn auch jetzt noch von der Arbeit hätte abhalten sollen, das sah niemand ein. Der Herr Betriebsdirektor schon gar nicht. Der sprach noch ein wenig von dem heilenden Einfluß der Zeit, die alle Wunden schließt, und von der Jugend Marquardts, der ja noch so viel erleben, so manchen Trost finden könne ... Es klang fast wie Neid aus diesen Worten des alten Herrn, Neid auf die Jugend, für die, wie er offenbar glaubte, jeder Schmerz erträglich und kein Verlust unersetzlich war.
Heinz Marquardt ging still auf seinen Platz und arbeitete wie früher. Nur nicht mehr mit der alten Liebe zu seinem Tagewerke. Auch seine Begeisterung für den Chef, Herrn Weckerlin; schwand dahin. Er war für den jungen Beamten nur noch ein Vorgesetzter wie jeder andere. Heinz hatte überhaupt für nichts mehr Interesse, für gar nichts! ... Ja doch, etwas gab's! ... Das war die fixe Idee! Er fühlte, daß es wirklich zur Marotte werde, daß er vielleicht verrückt werden würde, wenn's ihm nicht gelänge, den Mörder seiner Trude zu finden.
Heute abend war er der erste, der seine Schreibärmel abstreifte. Und kaum, daß er sich Zeit nahm, seine Hände ins Waschbecken zu tauchen, rannte er schon, ohne jemandem adieu zu sagen, davon.
Ah! Das war eine förmliche Erlösung, als er draußen auf der Straße stand. Wieder in dem Strom der Arbeiter, die nach Hause eilten. Wieder ging er langsam dahin, als trüge dieser Strom ihn nur so mit sich, und blickte, in seinen warmen Mantel gehüllt, hinein in den Lärm des verblassenden Tages. Aber die Zufriedenheit, die damals sein Herz erfüllte, die ihn so getrost, so seelensruhig ins Leben hineinsehen ließ, die war fort und kam nie wieder.
Und zu seinem Schmerz gesellten sich heute die Sorgen. Denn das fühlte er, seine Stellung im Bureau würde er auf die Dauer nicht mehr ausfüllen können! Nicht, daß er durchaus fortgewollt hätte, nein, aber er war klug genug einzusehen, er würde früher oder später eines Morgens etwas so Wichtiges zu tun haben, daß er einfach nicht ins Bureau kommen könnte! ... Auch würde nach den vielen Nächten, die er von jetzt an außerhalb des Bettes zubringen mußte, seine Spannkraft am nächsten Morgen nicht ausreichen, um der Arbeit, die man von ihm verlange, gerecht zu werden.
Aber gleichviel, vorläufig hatte er Geld, das bei seiner Sparsamkeit eine ganze Weile reichen mußte ... und dann ... und dann ... er lächelte still vor sich hin ... Dieses Bild: er selbst den Mörder seines armen Weibes mit starker Faust vor sich herstoßend, in den Schlund einer blutigen, unaussprechlich furchtbaren Rache hinein. Dieses Bild verließ ihn nicht und gab ihm die Zuversicht und den dumpfen Tatendrang des Fatalisten.
Er hatte sich ein Zimmer in der Gollnowstraße gemietet. Dort im Scheunenviertel, mit seinen zum Teil noch erhaltenen Winkelgassen und Schlupfwinkeln für die Raubtiere der Großstadt, behagte es ihm am meisten.
Wenn das Licht der Gaslaternen die niederen, schlecht gebauten Häuser hell und dunkel schattierte, wenn aus den Fenstern die verräterisch rote Gardine schimmerte und die Kneipen beim Öffnen der Glastüren weiße Streifen über das Trottoir zeichneten, dann begann seine Zeit, dann schlich er die Straße auf und ab, wie ein Wolf, der mit brennenden Blicken auf Beute ausgeht!
Aber nach zwei Wochen sah er ein, daß er so nichts finden würde. Es mußte noch andere Orte geben: rauchgeschwärzte, düstere und stinkende Höhlen, wie sie in den Romanen geschildert wurden, die er früher gelesen hatte.
Kaschemmen!
Irgendwo hatte er das Wort gehört. Und seine Phantasie, die keine andere Aufgabe mehr hatte, arbeitete wie im Fieber an einem Gemälde, das eine Brutstätte des Lasters darstellte, wie sie wahrscheinlich nie und nirgend existiert hatte.
Die starken weißen Oberzähne über die Unterlippe beißend, betrat er ein kleines Parterrelokal, in dem hinter dem Schanktisch eine Frau stand, deren Gesicht man ihren früheren Beruf deutlich ansah.
In dem kleinen schmutzigen und sehr schmalen Raum saßen nur wenige Leute. An einem jammervollen Klavier saß ein junger Mensch, der Heinz Marquardt sofort interessierte. Er trug eine schwarze Kellnerjacke, die an den Nähten rot schimmerte, seine hellgrauen Beinkleider waren bespritzt, und aus der tief ausgeschnittenen schwarzen Weste kam ein zerknitterter, arg beschmutzter Serviteur heraus. Sein junges Gesicht hatte die fahle, fettige Blässe der Nachtschwärmer, und eine gewisse elegante Flinkheit der Bewegungen, die jetzt noch gutsitzende Scheitelfrisur ließen unschwer den herabgekommenen Kellner in ihm erkennen.
Er sang das Lied von der »Mutter Nudelbecken« und erzielte durch seinen, allerdings sehr freien Vortrag, mehr noch aber durch die nichtswürdige Begleitung dieses in den letzten Zügen liegenden Klaviers eine so komische Wirkung, daß sogar Heinz Marquardt lächeln mußte.
Und ohne sich recht klar zu werden über den Grund seines Zutrauens, sprach Marquardt den jungen Menschen an:
»Macht Ihnen wohl Spaß, was?«
Der andere ließ die Hände auf den Tasten ruhen, hob sein blondes, verschwiemeltes Gesicht und öffnete mit einer komischen Grimasse den Mund weit, ohne zu sprechen.
»Na, spielen Se doch mal ordentlich«, meinte Heinz Marquardt.
»Erst 'n Jroschen!« sagte der andere lakonisch.
Marquardt, dem die Groschen sonst nicht so lose saßen, gab ihm zehn Pfennig mit den Worten:
»Nu, sagen Se mal, wie kann 'n anständiger Mensch, wie Sie, sich in so 'ner Kaschemme aufhalten?!«
»Kaschemme 7!« Der andere zog den Mund ganz auf die Seite und die rechte Augenbraue hoch hinauf. »Sie Männeken, lassen Se det nich Mutta Streicherten heeren, sonst klackt Ihn' die 'n Weißbierjlas uff Ihren Resedatopp, det de Blieten wackeln, vastehen Se! ... Det is doch hier keene Kaschemme nich! Hier vakehrt det dufteste Publikum aus de janze Knallbockstraße 8!«
Heinz Marquardt klopfte ihm leicht auf die Schulter: »Na, lassen Sie man, so war's ja auch nicht gemeint ... man sagt doch so! ...«
»Ich sage, du sagst, er sagt, wir sagen, ihr sagt, sie sagen! Sie! – Sie! Sie haben überhaupt nischt zu sagen, vastehn Se, Sie olle Modderpflaume! Ja, wenn Sie noch Lokalkenntnisse besitzen dhäten! ... Soll ick Ihn' mal in't »Kabarett zum vabubanzten Theodor« rinjeleiten? Ja? ... Da kenn' Se seh'n, wat 'ne Kaschemme is! ... Damit Se davon mitreden kenn'! Wenn Ihn' mal 'n anständijer Mensch nach fragen sollte ...«
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