In der Reaktion gegen die napoleonischen Eroberungskriege sahen wir aber nicht nur eine christlich-romantische Erneuerung und eine Systemisierung konservativen 12)Denkens und Handelns, sondern auch eine vielleicht unerwartete Verschmelzung egalitärer und nationaler Ideen. Dies sollte eigentlich niemanden überrascht haben, denn es handelte sich um die Synthese von zwei Kollektivismen. Hier muß man gleich auch einmal auf die Doppelsinnigkeit des Wortes ‚Volk‘ in so vielen Sprachen hinweisen. Der Terminus ‘Volk‘ kann als (ethnisch-sprachliche) Nation, aber auch als Niedervolk ausgelegt werden. Also sind gerade heute, dank der kommunistischen Sprachregelung, die Ausdrücke für Volksdemokratie und Nationaldemokratie in den slawischen Sprachen identisch. 13)Der Ausdruck ‚Volk‘ kann also eine Kampfbereitschaft gegen Monarchie, Adel und Klerus ausdrücken, die bei uns nicht einen nationalen, sondern einen übernationalen Charakter hatten. Anders natürlich als in Japan oder im alten China. 14)Im Jahre 1910 waren von den souveränen europäischen Dynastien nur jene von Montenegro (Petrović-Njegoš) und Serbien (Karađorđević) echt einheimisch. 15)Der Duke of Edinburgh, Prinzgemahl der jetzigen britischen Königin, war ursprünglich ein „griechischer“ Prinz, aber ohne einen Tropfen griechischen Bluts, denn sein Vater, Prinz Andreas von Griechenland, stammte aus dem dänischen, in Wirklichkeit aber deutschen Haus Sonderburg–Glücksburg–Augustenburg. 16)Mit dem Hochadel stand es oft wie mit den Dynastien; viele Familien stammten aus dem Ausland, und Heiraten mit Ausländerinnen waren häufig. So hatte zum Beispiel Churchill eine amerikanische Mutter, teilweise indianischer Abstammung, 17)die großen französischen Liberalen de Tocqueville und Montalembert waren englisch verschwägert; im deutschen und österreichischen Adel, wie auch im preußischen Offizierskorps waren sehr viele Familien französischer, italienischer oder slawischer Abstammung. 18)
Die nationaldemokratischen Bewegungen, die nun allenthalben ins Kraut schossen, waren deshalb nicht nur egalitär, sondern auch xenophob. „Herrschaft“ hieß oft Fremdherrschaft, die für „das Volk“ schwer erträglich war. Man erinnere sich hier auch daran, daß fast alle republikanischen Bewegungen mit einer Haßkampagne vielleicht psychoanalytischer Natur gegen die „Ausländerin“, die „fremde“ Frau des Monarchen begannen. (Kollektiveifersucht der Frauen? Verdacht, daß der Monarch vielleicht unter dem Pantoffel der „Zugereisten“ stand?) Denken wir da nur an Henrietta-Maria, die katholische Gemahlin Karls I. von England, an Marie-Antoinette (l’ Autrichienne ), Gemahlin Ludwigs XVI., Kaiserin Alexandra von Russland (aus dem Hause Hessen), Kaiserin Zita von Österreich (Bourbon–Parma), Königin Ena von Spanien (Battenberg). In diese Kategorie gehört auch die Animosität gegen die Princesse de Réthy, Gemahlin Leopolds III., die als Flämin den Wallonen und als Bürgerliche den Kommunisten nicht zu Gesicht stand. 19)(Ob die „Fremdheit“ des Herrschers oder Herrscherhauses negativ zu werten ist? Keineswegs. Hier ist größere Objektivität durch Distanz zu erwarten.) 20)
Schon zwei Jahre nach der Beendigung des Wiener Kongresses fand auf der Wartburg das Burschenschaftsfest anläßlich des dreihundertsten Jahrestages der Reformation und des vierten Jahrestages der Völkerschlacht (bezeichnender Ausdruck) von Leipzig statt. Dieses Fest hatte einen deutlich nationaldemokratischen Charakter. Die alte schwarz-goldene Reichsfahne wurde mit dem Rot der Revolution bereichert und zu guter Letzt eine Bücherverbrennung veranstaltet, bei der auch die Werke von Kotzebue und von C. L. v. Haller den Flammen übergeben wurden. (Davon lernten dann die Nationalsozialisten!) In Berlin, Wien und Petersburg schlug man Alarm. Und nicht viel später wurde der Staatsrat und Lustspieldichter Kotzebue von einem nationaldemokratischen Terroristen, einem Studenten, erdolcht. Demokratie und Nationalismus arbeiteten in perfekter Gleichschaltung wie später dann Nationalismus und Sozialismus. Der echte Patriotismus mit der vaterländischen Freude an der Vielfalt wich dem Nationalismus, der in seiner Unduldsamkeit alles über einen Leisten schlagen wollte. Wir begegneten auch damals der Gestalt des „Turnvaters Jahn“, eines nationaldemokratisch gesinnten Priegnitzers, der die Massengymnastik erfunden und mit eigener Wortschöpfung „Turnen“ genannt hatte. Dieser brave Mann kam mit den siegreichen Alliierten nach Paris, wo er in einem altdeutschen Phantasiekostüm herumspazierte, mit verschränkten Armen und bösem Blick auf dem Gehsteig Passanten anrempelte und schließlich geschickt wie ein Affe auf den Arc de Triomphe hinaufkletterte, um dem Engel die Tuba aus der Hand zu schlagen, was ihm aber nicht gelang. 22Ihm verdanken wir auch den herrlichen Ausspruch, er sähe es lieber, daß seine Tochter eine öffentliche Dirne würde, als daß sie die französische Sprache erlernte. Unter der „reaktionären“ Regierung Friedrich Wilhelms III. wurde dieser schrullige, aber viel bewunderte und ideengeschichtlich nicht ungefährliche Kauz eingesperrt. Ein Vorläufer des Nationalsozialismus? Zweifellos. 23
Die „Reaktion“ war natürlich da, aber reine Reaktionen werden leider selten von der Klugheit geleitet. Die geistig-politische Entwicklung Europas ging, wenn wir von der konservativen Romantik absehen, in die linke Richtung, weil in Europa ein gewaltiges Vakuum eingetreten war, in das die linken Ideen weiter einströmen konnten. Geben wir aber zuerst einmal ruhig zu, daß das Ancien Régime (wie seine besten Vertreter sehr gut wußten) nicht nur reformbedürftig gewesen war, sondern auch einfach nicht dort fortgesetzt werden konnte, wo es aufgehört hatte. Hier muß man sich noch einmal vor Augen halten, daß der königliche Absolutismus eine Degenerationserscheinung der traditionellen europäischen Staatsform gewesen war, und daß die Existenz einer beratenden und in manchen Domänen auch sogar entscheidenden Volksvertretung keineswegs einen Bruch, sondern einen Anschluß an die Vergangenheit bedeutete. Wäre die Revolution mit dem Jahr 1790, mit dem nationalen Verbrüderungsfest auf dem Champ de Mars, beendet worden, hätte auch die Geschichte Europas eine andere Wendung genommen. Vergessen wir nicht, daß der aufgeklärte Absolutismus in einer liberalen Richtung höchst reformfreudig gewesen war und die ständischen Vertretungen in anderen Ländern nur eine gewisse „Modernisierung“ notwendig gehabt hätten. Doch die Mischung von verfahrener Philosophie, religiöser Krise und aufgewühlten Leidenschaften brachte den zu schnell fahrenden Zug zum Entgleisen. Ohne Französische Revolution wäre der Regierungskurs Franz II. (Franz I.) auch ein ganz anderer geworden. 24)(Ohne KPI hätte es auch keinen italienischen Faschismus und ohne KPD keinen Nationalsozialismus gegeben.)
Sehr schmerzlich fehlte eine Ideologie, die ebenso dynamisch, aber innerlich ganz anders als damals die Französische Revolution, hoch und niedrig ergriffen und begeistert hätte, eine Ideologie, die gleichzeitig zum Herzen, zum Verstand und zu den Sinnen sprechen sollte. Das aber muß man gestehen, ist ein Problem, das das restliche, freie Europa bis auf den heutigen Tag noch immer nicht gelöst hat.
Was sich also im „Vormärz“ wiederum ankündigte, war Ortegas „Rebellion der Massen“, 25die mit dem Bürgertum-Kleinbürgertum schon eine große Schlacht gewonnen hatte, dann die Hefe des Volkes mobilisierte und erst später auf das rasch entstehende industrielle Proletariat übergriff. Die Metastasen entwickelten sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in richtige Krebsgeschwüre. Die Militärinterventionen der Heiligen Allianz, die Miguelitenkriege und Karlistenkriege in Portugal und Spanien, die Erhebung der Griechen, die belgische, die polnische und vor allem die Juli-Revolution in Frankreich waren unheilverkündende Wetterleuchten. Die Juli-Revolution rief den Bürgerkönig Louis Philippe auf den Thron; er war aber nicht mehr König von Frankreich, sondern König der Franzosen, also nicht mehr Vater des Vaterlandes, sondern eine Art Anführer der Nation. Er war bezeichnenderweise ein Sohn des infamen Philippe Égalité, des verkommenen Königsmörders aus der Revolutionszeit, Chef des Orléans-Zweiges des Hauses Bourbon. Er und sein reformierter, liberaler Kabinettschef Guizot „langweilten“ jedoch die Franzosen, und beide mußten 1848 nach der Errichtung einer Zweiten Republik nach England flüchten. 26)
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