Nicht weit weg in der Nachbarschaft wohnte die Familie Schmidt-Chiari in einem großen Haus mit riesigem Garten. Constantin, den wir Tino nannten, der jüngste der Kinder, ging mit meinem Bruder Sigi in die Volksschule. Oft spielten wir mit Tino im Haus der Familie. Mit seinen älteren Geschwistern Monika, die später Architektur studierte, und mit Guido, von uns – wegen seines zweiten Vornamens – Niko gerufen, dem späteren Generaldirektor der Creditanstalt in Wien, hatten wir weniger Kontakt. Tinos Großmutter war die Gräfin und Freifrau Chiari, von der wir unseren ersten Hund, den Nilo, bekamen. Nilo war ein Mischling, dessen Wurzeln wir nicht genau nachvollziehen konnten.
Wir hatten gehört, dass Tinos Vater in Wien ein „hohes Tier“ – so bezeichnete man ranghohe Persönlichkeiten – gewesen sei. Als Fünfjähriger interessierte mich das aber nicht weiter. Erst später realisierte ich, dass er vor dem Einmarsch Hitlers im Jahr 1938 Außenminister in der Regierung von Kanzler Kurt Schuschnigg war. Nach dem Zweiten Weltkrieg stand Tinos Vater über viele Jahre Semperit, dem renommierten österreichischen Reifenerzeuger, als Generaldirektor vor. Mit ihm bin ich zum ersten Mal in einem Auto mitgefahren. Geplant war ein Ausflug zum Tramser Weiher, einem idyllischen Badesee oberhalb von Landeck. Bis Wiesberg kamen wir auf der kurvenreichen Strecke gut voran. Vielleicht war es der Anblick der die Trisanna in einem hohen Bogen überspannenden Eisenbahnbrücke, der mich blass werden ließ. Ich musste mich jedenfalls übergeben. Anstatt eines erwarteten Donnerwetters wurde ich aber liebevoll betreut und die Rückstände wurden rasch beseitigt. Dann setzten wir unsere Fahrt nach Landeck fort. Bis heute wird mir im Fond eines Autos, aber auch in den hinteren Sitzreihen eines Busses übel.
Der zwei Jahre ältere Tino war aber nicht nur unser Spielkamerad, er war auch Sponsor. Das kam so: Neben verschiedenen damals üblichen Spielen im Freien erinnere ich mich an das Spiel „Pfui Zeit erleas“, ein Versteckspiel, bei dem man sich unbemerkt vom Suchenden abklatschen, also erlösen, musste. Neben den Spielen organisierte ich Laufrennen, die vom Reselehof über St. Jakob, Rafalt und das Pitzi wieder zum Reselehof zurückführten; es war eine Strecke von über zwei Kilometern. Gerne rannten alle um die Wette, weil es Preise zu gewinnen gab. Eine kleine Schokolade, Bonbons, uraltes Skiwachs, das ich auf dem Dachboden gefunden hatte, und manchmal eben auch ein paar Schillinge von Tino als Hauptpreis. Karle Cordin, der spätere Skirennläufer, ein Abfahrer von Weltklasse, machte mit, genauso wie der dritte Karl in Nasserein, Karl Wolfram, der so wie Karle etwa ein Jahr jünger war als ich. Jedes Rennen habe ich gewonnen. Und die von Tino gestifteten Preise waren neben meinem Ersparten Grundlage für den Kauf meines ersten Eispickels.
Wir waren aber nicht immer lieb mit Tino. Beim Indianerspiel kam uns der Gedanke, Tino an einen Marterpfahl zu fesseln. Als Pfahl verwendeten wir den Holzpfosten einer Wäscheaufhängung, dazu ein dünnes Seil, das wir in Kreisen unter ausgerissenen Grashalmen versteckten. Indianertänze aufführend, baten wir Tino in den Kreis vor unserem Marterpfahl, und ehe Tino es bemerkte, griff Walter die Schnur unter dem Gras und stülpte sie über die Schienbeine von Tino. Sofort begannen wir nun, die Schnur in Händen, so oft um den Pfahl zu laufen, bis Tino bis zur Brust gefesselt war. Es war aber keine martialische Aktion, Tino lachte, wir lachten, und alles war wieder gut.
Mein Elternhaus in Nasserein. Das Kellergewölbe stammt aus der Zeit um 1480, die Stube aus dem Jahr 1680.
Auf unserem Haus in St. Anton haben wir ein Bezugsrecht für Holz, üblicherweise wenige Kubikmeter Brennholz, bei Umbauarbeiten am Haus sind es einige Kubikmeter Bauholz. Oft durften Sigi, mein um zwei Jahre älterer Bruder, und ich unseren Vater zu Arbeiten „ins Holz“ begleiten. Eines Tages wurden wir zu einem Holzschlag über dem Rifaplan mitgenommen. In den Hängen waren aber die kleinen Bäche und die feucht-moosigen Stellen vereist. Die vom Vater ins Tal zu transportierenden Baumstämme kamen auf den vereisten Stellen in Fahrt. Sie rutschten nicht nur, sondern sausten, sich überschlagend und in Stücke zerbrechend, ins Tal. Sigi und ich konnten uns vor Lachen kaum halten, da kaum ein Baum unversehrt seine Drift beendete. Aber Vaters Gesicht verfinsterte sich von Baumstamm zu Baumstamm. Er hatte gerade wertvolles Bauholz in Brennholz umgewandelt.
Meine Schwester Erika versuchte manchmal, etwas strenger zu mir zu sein. Zu recht, denn meine Eltern ließen mir, dem damals Jüngsten, so ziemlich alles durchgehen. Meine Schwester Eva kam erst zehn Jahre später zur Welt. Mit Sigi verbrachte ich in der Kindheit die meiste Zeit. Wir spielten stundenlang miteinander, und wir holten schon als kleine Buben alleine die Weihnachtsbäume aus dem Wald, wobei wir es mit den Grundstücksgrenzen nicht so genau nahmen. Sigi gab mir, dem Volksschüler, sein Wissen und den Lehrstoff aus der ersten und zweiten Klasse Hauptschule in Landeck weiter. Er hatte einen Schulatlas, in dem man die gesamte Erde mit ihren Kontinenten und Ländern bewundern konnte. Oft nahmen wir abends – schon im Bett liegend – den Atlas zur Hand und veranstalteten ein geografisches Ratespiel. Dabei musste der jeweils andere eine Stadt in einem fremden Land oder auf einem fernen Kontinent suchen, die ihm vom anderen genannt worden war. Manchmal ärgerte sich Sigi, wenn ich scheinbar ganz interessiert eine bestimmte Stelle im Atlas fixierte und aus dem Augenwinkel gleichzeitig einen davon weit entfernten Ort las, nach dem ich ihn dann befragte.
In unserer Nachbarschaft lebte auch Oberst Adelbert Homa, der Schwiegervater von Skischulleiter Rudi Matt. Wir grüßten Adelbert Homa immer recht freundlich. Was wir nicht wussten, war, dass er an der Dolomitenfront ein hoch dekorierter Soldat gewesen war. Er war Abschnittskommandant beim 2. Regiment der Tiroler Kaiserjäger am Col di Lana, dessen Gipfelkuppe von den Italienern im April 1916 mit 5 Tonnen Dynamit in die Luft gesprengt wurde. Hunderte Soldaten starben. Oberst Homa wurde einen Tag vor der Sprengung von Oberleutnant Anton von Tschurtschenthaler als Kommandant abgelöst. Aus heutiger Perspektive bedauere ich es sehr, dass ich erst viele Jahre nach seinem Tod erfahren habe, was dieser Mann erlebt hat und ertragen musste. Viele Schauplätze der Dolomitenfront habe ich bei meinen Klettereien und Wanderungen bewusst besucht und mir dabei auch die Stollen und Schützengräben angeschaut. Mit den Kindern wanderten meine Frau Edith und ich sogar einmal zum Col di Lana. Und in mahnender Erinnerung an diesen Wahnsinn habe ich zu Hause ein Kreuz hängen, das ich aus dem bei Stellungen gefundenen Holz und rostigem Stacheldraht gefertigt habe.
Den Haushalt im Haus Schmidt-Chiari führte Anna, eine resolute und ebenso liebevolle Frau aus Böhmen, die mit ihrem böhmischen Akzent alle beeindruckte und herrliche Kuchen buk. Sie war es, die meiner Mutter wegen meiner guten schulischen Leistungen den Hinweis gab, mich nach Feldkirch in die Stella Matutina, das Privatgymnasium der Jesuiten, zu schicken.
Die Stella Matutina („Morgenstern“) war eine internationale Schule mit hohem Ansehen. Sie wurde von Jesuiten aus der Schweiz gegründet, die für das Anzetteln des Sonderbundskriegs verantwortlich gemacht und deshalb 1847 des Landes verwiesen worden waren. 1848 wurde das Jesuitenverbot sogar in der Schweizer Verfassung verankert und erst 1973 durch eine Volksabstimmung wieder außer Kraft gesetzt. Weil die Jesuiten ihr Gymnasium in Fribourg schließen mussten, eröffneten sie 1856 die Stella in Feldkirch: als Pensionat für Zöglinge und als offizielles Gymnasium der Stadt. Im Jahr 1868 verlor die Stella das Öffentlichkeitsrecht und wurde bis 1892 als Privatschule mit dem deutschen Unterrichtsplan weitergeführt. Damals besuchten viele Schüler des katholischen Adels aus Deutschland diese Schule. Wieder staatlich anerkannt, wurde sie bis 1934 von Schweizern und Deutschen, großteils aber von Österreichern besucht. Aufgrund der im Jahr 1933 von Nazideutschland gegenüber Österreich verhängten 1000-Mark-Sperre wechselten die Schüler aus Deutschland mit der Hälfte des Inventars in das ehemalige Benediktinerkloster St. Blasien im Schwarzwald. Nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten in Österreich 1938 wurde die Stella Matutina geschlossen, die Jesuiten wurden von den Nationalsozialisten verfolgt, die Patres Alois Grimm und Alfred Delp nach dem Schuldspruch durch Richter Freisler am Volksgerichthof in Berlin sogar hingerichtet. Im Jahr 1946 öffnete die Schule aber wieder ihre Pforten und bald besuchten über 300 Schüler aus verschiedenen Ländern dieses Privatgymnasium. Der Nachwuchsmangel, finanzielle Gründe und wahrscheinlich auch das aufgehobene Berufsverbot für die Jesuiten in der Schweiz führten 1979 zur Schließung dieser besonderen Schule mit einer nahezu 125-jährigen Tradition.
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