Kerry Drewery
Der letzte Papierkranich
Eine Geschichte aus Hiroshima
aus dem Englischen von Meritxell Janina Piel
1983 war ich elf Jahre alt und schaute mir mit einer Freundin Die Rückkehr der Jedi-Ritter im Kino an. Damals wurden vor dem Hauptfilm noch Kurzfilme gezeigt, und uns Menschen beschäftigte laufend der Kalte Krieg und die ständige Gefahr eines nuklearen Weltuntergangs. An jenem Abend lief eine Dokumentation darüber, was bei einem Atomschlag geschehen würde; es wurde erklärt, dass für die meisten die Zeitspanne zwischen Warnung und Detonation nicht ausreichen würde, um rechtzeitig nach Hause zu ihren Familien zu gelangen.
Als ich das hörte, wollte ich nicht länger im Kino bleiben, sondern nach Hause zu meiner Mutter, meinem Vater und meinem Bruder, für den Fall, dass die Bombe einschlagen würde. Doch ich blieb und die Bombe kam in jener Nacht nicht, aber die Angst nagte noch lange weiter an mir.
In den Jahren danach las ich Wargames – Kriegsspiele von David Bischoff, Strahlende Zeiten von Raymond Briggs, ich schaute Tag Null , hörte Two Tribes von Frankie Goes to Hollywood und 99 Luftballons von Nena.
Meine Angst trieb mich an, ich versuchte es zu verstehen.
Ich las alles über Hiroshima, was ich finden konnte, doch da es noch kein Internet gab, waren Informationen nicht ohne Weiteres verfügbar.
Irgendwann ging der Kalte Krieg vorüber, als ich ein Teenager war, die Welt veränderte sich, aber die Erinnerung an meine Angst blieb.
Spulen wir ein paar Jahre vor: Als immer mehr Länder in den Besitz von Nuklearwaffen kamen, die politische Landschaft sich zu wandeln begann und die atomare Bedrohung wieder realer wurde, stieß ich auf einen Artikel über einen Überlebenden von Hiroshima. Darin wurde ein Buch empfohlen, Hiroshima. 6. August 1945 – 8 Uhr 15 von John Hersey. Ich bestellte es, verschlang es und weinte darüber.
Ich hatte geglaubt verstanden zu haben, was in Hiroshima geschehen war, doch ich war weit davon entfernt. Ich gab anderen das Buch, recherchierte im Internet, las weitere Bücher, schaute Dokumentationen, Filme … Ich wollte alles wissen, wollte es begreifen.
Ich verglich die Vergangenheit mit der aktuellen Bedrohung – was hatten wir aus der Geschichte gelernt? Könnte so etwas wieder passieren? Hatte die Zeit den Schmerz über das Geschehene zum Schweigen gebracht? Liefen wir Gefahr zu vergessen?
Jenes schreckliche Ereignis sollte in der Gegenwart nachhallen, doch löschte die Zeit es womöglich aus unser aller Gedächtnis?
Als Autorin wollte ich diesen Fragen nachgehen. Dabei ging es mir nicht darum, zu analysieren, wer was warum getan hatte, mich interessierte nicht, was hätte sein sollen oder werden können; mich bewegten die Menschen und ihre Geschichten, die Überlebenden, aber auch die Verlorenen, deren Leben, Liebe und Zukunft an jenem Tag endeten. Die Reue, Trauer und Schuld, die so viele Menschen empfanden. Ihre Angst.
Mich mit alldem zu beschäftigen hat mir das Herz gebrochen.
Ich bin keine Japanerin, ich habe nichts davon selbst erlebt und kenne auch niemanden, der es erleben musste.
Doch ich konnte die Geschichte nicht loslassen. Und ich dachte immer wieder: Falls Geschichten nur von denjenigen erzählt werden, die sie durchlebt haben, dann wird mit der Zeit alles aus unserer Erinnerung verschwinden. Manche Dinge sind zu wichtig, um sie loszulassen; sie sollten niemals vergessen werden. Wir alle – jeder von uns – hat zu viel zu verlieren.
Angst ist nicht an eine Epoche, ein Geschlecht, ein Land oder eine Kultur gebunden.
Ebenso wenig Schuld.
Oder Liebe.
In Der letzte Papierkranich geht es um all diese Dinge.
Kerry Drewery
In Erinnerung an meinen Großvater, Walter Gage –
Lincoln Green, die Tower Gardens, das County Hotel,
Madame Cholet mit einem Penny in der Tasche,
Jack, den musikalischen Clown,
der auf deinem Schoß sitzt,
ein Lächeln auf einem Foto.
Wir alle
sind
Geschichten.
Ich,
meine Mutter,
Großmutter.
Meine Freunde.
Auch du,
Großvater Ichiro.
Ganz besonders
du.
Ich hielt unsere Geschichten
und Leben
für geradlinig.
Aber ich lag falsch.
Sie sind Kreise
inmitten von Kreisen,
überlappend, miteinander
verbunden.
Sie kräuseln sich
durch das Leben.
Doch zu oft
verhallen sie.
Deine Geschichte, Großvater,
wäre verblasst.
Verloren.
Doch wir haben sie bewahrt,
du und ich,
sie kräuselt weiter
durch die Zeit
für immer.
Meine Finger wandern über verbogene Buchrücken.
Verschwommene Wörter.
Vergilbte Seiten.
»Welches?«, frage ich.
»Such dir eins aus, Mizuki«, murmelt Großvater.
Ich höre seinen Missmut.
Ich schaue hoch.
Reihen von Büchern in
Reihen von Regalen,
die sich unter ihrem Gewicht
zu einem Lächeln formen.
»In Büchern liegt Magie«, hauche ich.
»Das hast du mir gesagt«, flüstere ich.
Von seinem Bett aus spottet er:
»Kinderkram.«
Ich seufze.
Ich vermisse, wie er war,
bevor Großmutter
starb.
Seine Heiterkeit.
Sein Lächeln.
Seine Begeisterung.
»Aber … Geschichten –«, beginne ich.
»Sind bloß Worte«, sagt er. »Mehr nicht.«
Ich drehe mich um, schockiert.
»Lass mich allein.« Seine Stimme bricht.
»Aber –«
»Verschwinde!«, ruft er.
Ich nehme ein Buch aus dem Regal
und schlage
die Tür
hinter mir zu.
Blätter an einem
sterbenden Baum sind unsre
Erinnerungen
Großvaters Buch liegt auf dem Tisch.
Meine Hand folgt den gestanzten Buchstaben.
Innen trommeln die Figuren mit den Fingern.
Wippen mit den Füßen.
Seufzen ungeduldig.
»Bald könnt ihr mir eure Geschichte erzählen«, sage ich zu ihnen.
»Er liest nicht mehr,
aber ich werde euch befreien.«
Als ich jünger war,
hat Großvater mir vorgelesen.
Er saß auf meinem Bett, seine Stimme erfüllte den Raum.
Seine Hände trugen die Wörter durch die Luft.
In seiner Stimme schwangen Gefühle.
Als ich zu alt zum Vorlesen war,
haben wir immer noch Bücher geteilt,
haben wir immer noch geredet,
diskutiert,
uns begeistert
für Geschichten.
Immer für Geschichten.
Doch jetzt nicht mehr.
Als Großmutter starb,
starb auch etwas in ihm.
Ich vermisse es, spüre ich.
Ich vermisse, wer er war.
Meine Mutter gießt Tee ein.
»Was machst du heute?«
Ich esse meinen Joghurt.
»Bibliothek«, antworte ich. »Lernen.«
Ihre Finger umschließen die Tasse.
»Kannst du nicht hier lernen?«
Fünf Wörter verbergen eine Million andere.
Die Tür knarrt.
Er schlurft herein.
»Herrlicher Sonnenaufgang«, sagt er.
Lächelnd.
Ist heute ein guter Tag für ihn?
Oder nur ein Morgen?
Die Zeit wird es zeigen.
Mutter runzelt die Stirn.
Sorge zeichnet ihr Gesicht.
»Kannst du bleiben, Mizuki? Ich muss zur Arbeit.«
»Bleib nicht wegen mir«, sagt Großvater.
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