Prof. Dr. Stefan Piasecki
1Luhmann, Niklas (1988): Macht. Stuttgart: Enke, S. 39.
2Ders. (2000): Die Politik der Gesellschaft. Frankfurt: Suhrkamp, S. 43.
Abkürzungsverzeichnis
BDM Bund Deutscher Mädel
Gestapo Geheime Staatspolizei
HJ Hitlerjugend
KPD Kommunistische Partei Deutschlands
NS Nationalsozialismus
NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei
OVG NRW Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
SA Sturmabteilung
SS Schutzstaffel
SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands
StAMH Stadtarchiv Mülheim an der Ruhr
1. Einleitung
Auch noch 75 Jahre nach dem Untergang des Dritten Reiches gerät das nationalsozialistische Regime immer wieder in den Blick diverser Forschungen. Es verwundert daher nicht, dass es zum Nationalsozialismus bereits eine Fülle von Informationen und geschichtlicher Aufbereitung gibt.
Die Stadtverwaltung und ihre Bediensteten wurden im Geflecht des nationalsozialistischen Staates jedoch vergleichsweise wenig thematisiert. Für die Städte Münster 1und München 2werden seit einiger Zeit groß angelegte Studien durchgeführt, die die jeweiligen Stadtverwaltungen während des Nationalsozialismus thematisieren.
Hier knüpft die vorliegende Arbeit an und es wird speziell die Stadtverwaltung der kreisfreien Großstadt Mülheim an der Ruhr in Nordrhein-Westfalen betrachtet, der Fokus liegt vor allem auf den ehemaligen Beschäftigten. Es soll aufgezeigt werden wie der Nationalsozialismus Einfluss auf die Aufgaben sowie den Arbeitsalltag der Mülheimer Stadtverwaltung hatte und inwieweit die politischen Umstände in das Arbeitsleben einzelner Bediensteter hineingewirkt und die Entscheidungen der Beschäftigten beeinflusst haben. 3
Zu diesem Zweck wurden hauptsächlich archivierte Personalakten ausgewertet, aber auch alte Ratsangelegenheiten, Zeitungsartikel, Akten aus der allgemeinen Sachbearbeitung sowie damalige Niederschriften und Verfügungen herangezogen, die im Stadtarchiv Mülheim an der Ruhr öffentlich zugänglich sind. Zur Ergänzung der gesammelten Informationen wurde außerdem ein Zeitzeuge interviewt, der seit 1940 bei der Stadtverwaltung Mülheim an der Ruhr beschäftigt war (s. Anhang, Kapitel 8).
Der aktuelle Forschungsstand sieht wie folgt aus: Die bisherigen Arbeiten bezüglich der Stadt Mülheim an der Ruhr im Nationalsozialismus gelten den Themen des Widerstands, des Zwangsarbeitersystems und den Opfern des Regimes. In den 1980er Jahren wurde von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten in Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung die Wanderausstellung „Widerstand und Verfolgung in Mülheim 1933 bis 1945“ installiert, die auch heute noch besucht wird, vor allem von Schulklassen. 4Zudem hat die Stadtverwaltung in den 1990er Jahren drei historische Untersuchungen zu ihrer Stadtgeschichte im Nationalsozialismus in Auftrag gegeben, die die Themen Zeitzeugenberichte, Zwangsarbeit und das jüdische Leben in Mülheim an der Ruhr reflektieren. 5Auch die Mülheimer Stolperstein-Initiative hat bereits viele Schicksale nationalsozialistischer Opfer aufgearbeitet, hauptsächlich von ehemaligen jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, welche die größte Opfergruppe des Nationalsozialismus darstellen. Es wurden in Mülheim an der Ruhr jedoch auch Stolpersteine für andere Gruppen von verfolgten Personen verlegt, beispielsweise für Zeuginnen und Zeugen Jehovas oder Opfer der Euthanasie, die sich gegen Menschen mit Behinderung richtete. 6
Um die Stadtverwaltung Mülheim an der Ruhr im Nationalsozialismus nun gesondert zu betrachten, gliedert sich die vorliegende Arbeit in fünf inhaltliche Kapitel. Es erfolgt zuerst ein kurzer Überblick über die historische Entwicklung der Stadt Mülheim an der Ruhr in der Zeit des Nationalsozialismus ( Kapitel 2).
Danach werden die dienstlichen Werdegänge der Mülheimer Oberbürgermeister der Jahre 1933 bis 1945 betrachtet und verglichen, da das Amt des Oberbürgermeisters als Spitze der Stadtverwaltung von besonderem Interesse ist ( Kapitel 3).
Im Anschluss werden die Aufgabengebiete sowie Veränderungen der Aufgaben und betreffende Gesetzesänderungen von einzelnen, ausgewählten Ämtern der Stadtverwaltung näher beleuchtet. Es handelt sich um die Feuerwehr (Kapitel 4), das Schulamt (Kapitel 5) und die Stadtkasse (Kapitel 6). Die Betrachtung der einzelnen Ämter wird jeweils um eine detaillierte Dienstbiografie einer Person ergänzt, die früher dort beschäftigt war.
Die Arbeit schließt mit einem Fazit (Kapitel 7) ab, in dem die Ergebnisse in Hinblick auf das Forschungsinteresse zusammengefasst werden.
1Vgl. Westfälische-Wilhelms-Universität Münster, Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte II (2018). Die Stadtverwaltung Münster in der NS-Zeit. URL: 2019.
2Vgl. Ludwig-Maximilians-Universität München, Fakultät für Geschichts- und Kunstwissenschaften (2019). Die Münchner Stadtverwaltung im Nationalsozialismus. URL: 2019.
3Im Folgenden wird allein aus Gründen der leichteren Lesbarkeit gelegentlich lediglich die männliche Sprachform benutzt. Die Personenbezeichnungen können jedoch für beide Geschlechter gelten.
4Vgl. VVN – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten. Widerstand und Verfolgung in Mülheim an der Ruhr 1933 bis 1945. URL: 2019.
5Vgl. Kaufhold, B. (2006). Glauben unter dem Nationalsozialismus. 1. Auflage. Essen: Klartext, Vorwort. (künftig zitiert: Kaufhold, 2006).
6Vgl. Stadt Mülheim an der Ruhr (2019). Das Projekt „Stolpersteine“ in Mülheim an der Ruhr. URL: 2019.
2. Überblick über die historische Entwicklung
Im Folgenden wird ein kurzer Überblick über die Geschichte der Stadt Mülheim an der Ruhr und ihrer Verwaltung zu Zeiten des Nationalsozialismus gegeben.
2.1 Stadtgeschichte
Um die lokalhistorischen Ereignisse besser einordnen zu können, werden zuerst die gesamtdeutschen Vorgänge kurz dargestellt.
Auf Staatsebene wurde der Nationalsozialist Adolf Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt. 7Der Reichstag wurde am 1. Februar 1933 aufgelöst 8und in der Folgezeit die Staatsverfassung durch verschiedene Verordnungen zur Festigung des nationalsozialistischen Machtanspruches immer weiter ausgeschaltet. 9
Auf kommunalpolitischer Ebene hatte die NSDAP jedoch bisher nicht allzu große Wahlerfolge verbuchen können. Daran wurde nun mithilfe staatlicher und lokaler Maßnahmen gearbeitet. Einerseits wurden die Kommunalwahlen auf den 12. März 1933 vorverlegt und andererseits Wahlwerbung durch Ortsgruppen betrieben, teilweise auch Gewalt und Drohungen angewandt. 10So zogen beispielsweise Anfang März Anhänger des Nationalsozialismus begleitet von einem Musikzug durch Mülheim an der Ruhr, um ihre Wahlsiege zu feiern. Es wurde eine Festrede auf dem Mülheimer Rathausplatz gehalten und vielerorts wehten Hakenkreuzfahnen, vor allem an öffentlichen Gebäuden wie dem Rathausturm. Anfang März 1933 wurden zudem 200 Bereitschaftspolizisten nach Mülheim an der Ruhr entsandt, die zu 80% aus SA- und SS-Angehörigen bestanden. In einer Razzia nahm dieser Polizeitrupp stadtweit 100 Angehörige der gegnerischen Partei KPD in Schutzhaft, wodurch die Gewaltanwendung seitens des neuen Regimes erstmalig auch in Mülheim an der Ruhr offenkundig wurde. 11Zeitgleich gab es einflussreiche Mülheimer, die die NSDAP unterstützten wie die Industriellen Fritz Thyssen und Emil Kirdorf. 12Anlässlich der Geburtstage von Kirdorf sollte Hitler Mülheim an der Ruhr in den Folgejahren des Öfteren einen Besuch abstatten. 13
Am 12. März 1933 fanden in Mülheim an der Ruhr die Kommunalwahlen bereits unter dem Einfluss der NSDAP statt. Politische Gegner wurden behindert und unmittelbar vor den Wahllokalen hatten sich Gruppen von Nationalsozialisten zur Einschüchterung versammelt. Auch nach der Wahl wurden politische Gegner weiterhin verfolgt und ausgeschaltet. 14Außerdem wurde versucht die Gunst der Bevölkerung durch verschiedene Verbände und Aktivitäten zu gewinnen. So war der Mülheimer Alltag zwischenzeitlich von nationalsozialistischen „Aufmärsche[n], Fackelzüge[n], Kundgebungen und Unruhen“ 15geprägt. 16Die gegnerischen Parteien wurden nach der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes durch die Regierung 1933 endgültig aufgelöst. 17Mülheim an der Ruhr war 1933 zum Zeitpunkt der Machtübernahme der Nationalsozialisten stark verschuldet, hatte hohe Sozialausgaben für bedürftige Bürgerinnen und Bürger zu tragen und die Arbeitslosenzahlen befanden sich auf einem Hochpunkt. 18
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