Der letzte Satz ließ mich aufhorchen, denn mit einem leibhaftigen Springer hatte ich noch nie gesprochen. Sollte die Geschichte also stimmen, hätte ich einen Zeitzeugen olympischer Spiele, die vor langer Zeit stattgefunden hatten, vor mir, und ich würde damals seine Sprünge von der Couch aus verfolgt haben.
»Der Höhepunkt der Spiele war das Springen von der Großschanze. Ehrfürchtig blickte ich von oben hinab in das weit unten liegende Tal. Die vielen Tausend Menschen erschienen von da oben zu einer einzigen schwarzen Masse verschmolzen, die sich über eine weite Fläche auf dem ansonsten makellosen Weiß der Welt damals hier am Igman ausbreitete. Das Raunen der Zuschauer schwoll zu einem gewaltigen Sturm an, der wie aus einer fernen Sphäre an meine Ohren drang, als ich mich in der Öffnung am Sprungturm zeigte, weil ich als Nächstes dran war. Für das Fahnenmeer, das sich dort unten nun auftat, hatte ich nur einen kurzen Blick, der jedoch ausreichend war, mir tausend kleine Schauer über den Rücken laufen zu lassen. Dann stieß ich mich ab, entschlossen, mein Land, so gut es meine Kräfte zuließen, würdig zu vertreten. Doch mit der erhofften Medaille ist es nichts geworden. Zu stark waren die großen Skisprungnationen. Matti Nykänen, Jens Weißflog und andere waren einfach überlegen. Es war ein Irrglaube der Funktionäre, dass man diesen Ländern mit unseren eher bescheidenen Mitteln würde Paroli bieten können. Dennoch war dieser Tag einer der Höhepunkte in meinem Leben, zumindest bis zu dem Moment, als ich mich in der Luft befand. Rasant nahm ich in der Anlaufspur Fahrt auf, der Luftwiderstand wurde immer größer, gleich einer Wand, gegen die man prallt. Dann stieß ich mich mit aller Kraft vom Bakken ab, wenn auch etwas zu spät, wie man mir später mitteilte. Vielleicht ist Ihnen geläufig, dass ein zu später Absprung Weite kostet.«
Erwartungsvoll sah uns der Mann an. Ich nickte ihm zu, denn über die Symmetrie des Sprunges war ich gut informiert. Dabei sah ich ein Lächeln über sein zerfurchtes Gesicht huschen, offensichtlich vermutete er in mir einen Experten, zumindest aber einen Interessierten. Warum sonst sollte man auch die Abgeschiedenheit dieser Welt betreten, wenn nicht aus Sportsgeist?
»Voll Adrenalin segelte ich meinen Landsleuten entgegen, die so geduldig jeden Springer feierten, doch mich ganz besonders, weil ich einer der ihren war«, setzte der ehemalige Springer seinen Bericht fort. »Ich fühlte mich frei wie ein Vogel und mein Trachten war nur darauf gerichtet, nie mehr landen zu müssen, immer weiter und weiter dem unendlichen Blau des Himmels entgegenzufliegen. Doch vollkommen unerwartet überfiel mich ein Gefühl, das ich nie zuvor bei einem Sprung empfunden hatte. Es war eine entsetzliche Angst vor dem, was mir dereinst nach der Landung meines entrückten Fluges im Kreise der Menschen würde widerfahren können. Keine Worte meiner Sprache sind geeignet, diesen Strom an Empfindungen auszudrücken, der sich meiner in der Luft bemächtigte. Was sich vor meinem geistigen Auge derartig lebendig abspielte, war eine Prophezeiung, die mich davor warnen wollte, jemals an diesen Ort zurückzukehren, wollte ich nicht ernsthaften Gefahren für mein Leben ausgesetzt sein.
So schnell, wie die Vision gekommen war, so schnell verschwand sie wieder und es war Zeit, die Landung anzutreten. Leider zu früh, denn für einen Platz auf dem Podium oder gar nur unter den ersten zehn reichte es nicht.«
Sarajevo, Malo Polje 2017
Unser Gesprächspartner brach seine Geschichte unvermittelt ab, als er sich an das Ereignis während der Olympischen Spiele zu erinnern schien. Die Rückblende war ihm offensichtlich unangenehm, denn er schwenkte nun zur Gegenwart.
»Seht euch um!«, forderte er uns auf. »Was ist mit diesem einst so lebendigen Ort geschehen? Was hat der Krieg mit uns gemacht? Die Anlagen der Olympischen Spiele standen mitten im Zentrum der Auseinandersetzungen. Durch dieses Tal verlief die einzige Nachschublinie in die eingekesselte Stadt. Die Serben beherrschten die umliegenden Hügel und schossen auf alles, was sich im Tal und an den Hängen bewegte. Nur die Nacht bot Schutz, doch war es zu jeder Zeit lebensgefährlich, sich hier aufzuhalten. Die Kämpfe und die ausbleibende Wartung haben den Bauwerken zugesetzt. Überall kann man die Einschusslöcher der Projektile sehen, die Jugendschanzen wurden vollständig zerstört, die großen Schanzen rotten vor sich hin. Seht euch die Anlaufspuren an, der Beton bröckelt und Moos und Flechten versuchen, dort wieder Land zu gewinnen, wo ich einst mit fast neunzig Stundenkilometern und der Beschleunigung eines Sportwagens entlanggehuscht bin. Ein Bild, das mir in der Seele wehtut. Der Sprungrichterturm ist nur noch ein Schatten seiner einstmaligen Eleganz, ohne Fensterglas schutzlos der rauen Witterung ausgeliefert. Hier hielten sich Blauhelme der UN auf, die während ihrer Mission in dem Tal darüber wachten, dass niemand angegriffen wurde. Das Schild mit der Aufschrift »UN« ist noch zu sehen.«
Wir blickten nach oben, wo das Gebäude in einem desolaten Zustand über die Anlage wachte. Zwischen den zersprungenen Platten der Verkleidung prangte unübersehbar das Schild mit den beiden Buchstaben, dessen Aussage sich mir bis zu der Erklärung des Sportlers nicht erschlossen hatte.
»Am schlimmsten aber war die Leblosigkeit, die seit Ende des Krieges 1995 hier eingezogen ist. Nicht einmal mehr Soldaten hielten sich an der Anlage auf und die Menschen waren so sehr mit Überleben beschäftigt, dass sie weder Zeit noch Kraft hatten, den Ort jenes Ereignisses zu besuchen, das uns als Nation viel Bewunderung in aller Welt eingetragen hat. Kein Sprungwettbewerb hat hier seit den Spielen mehr stattgefunden, die Schanzen wurden nur noch hin und wieder zu Trainingszwecken genutzt. Der aufkeimende Nationalismus und das immer knappe Geld machten alle Bestrebungen zunichte, den Skisprungzirkus hier zu etablieren, was ich mir mehr als alles andere gewünscht hätte. Die grausamsten Hinterlassenschaften des Krieges, die Landminen, machten es sogar gefährlich, hierher zu kommen. Doch es gibt Hoffnung, die Minen sind geräumt und Teile der Bevölkerung können es sich wieder leisten, wenigstens hin und wieder die Seele baumeln zu lassen. Sie kommen seit kurzer Zeit erneut hierher, ganze Familienverbünde und Jugendgruppen, und spielen im Auslauf Fußball oder schlagen Zelte auf. Zumeist streng nach Landsmannschaften getrennt, aber fröhlich und friedlich. Mir scheint, der Ort hätte seine Agonie überwunden. Nur die Melancholie ist geblieben.«
Sarajevo, Malo Polje 1993
Unser Erzähler verstummte erneut und schien nachzudenken. Wir wagten beide nicht, ihn zu unterbrechen, und schwiegen daher.
»Könnte ich noch eine haben?«, fragte er schließlich und deutete auf Ankas Handtasche.
»Kein Problem«, erwiderte diese und kramte in den Untiefen des Beutels. Schließlich hatte sie die rote Packung gefunden und streckte sie dem Unbekannten hin. »Wie heißen Sie eigentlich?«, wollte Anka nun wissen und mir wurde bewusst, dass wir uns noch gar nicht vorgestellt hatten.
»Strahilo. Ich bin Strahilo und lebe seit 1993 an diesem Ort!«
Anka und ich tauschten verdutzte Blicke aus. War es möglich, hier oben dauerhaft zu leben? Sicher, er konnte in den großen Gebäuden am Auslauf wohnen, wo zu Zeiten der Olympischen Spiele zweifellos das Pressezentrum eingerichtet gewesen war und das Organisationskomitee seinen Sitz gehabt haben dürfte. Aber die Häuser sahen absolut leblos und verlassen aus. Und ob die Straße hier hinauf auf den Berg Igman im Winter ständig geräumt würde, schien mir fraglich zu sein, nachdem es in Friedenszeiten auch wieder andere Zugänge nach Sarajevo gab. Ein Auto war auf dem großen Parkplatz ohnehin weit und breit nicht zu sehen, wie sollte sich Strahilo also versorgen?
Ich beschloss, die Aussage zunächst so stehen zu lassen, um den Mann nicht davon abzuhalten, weiterzuerzählen. Vielleicht war er auch einfach nur verrückt und niemals Teilnehmer an den Olympischen Spielen gewesen. Das galt es für mich nun, im Laufe der weiteren Unterhaltung herauszufinden. Der Fremde schien ohnehin an einer Fortsetzung seiner Erzählung interessiert zu sein, denn er setzte ohne Aufforderung erneut an:
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