Mamma war nicht in der Lage, mir oder meiner Schwester in die Augen zu sehen. Daher übernahm Papà das Reden, meine Schwester fest im Blick: »Gloria, wir sind dir dankbar, dass du Adela in der Öffentlichkeit vertrittst. Aber das hier …«, er hatte gewartet, bis ich ihn direkt ansah. »Es ist einfach zu gefährlich.«
»Nicht gefährlicher als das, was mir bevorsteht, wenn ich es nicht schon durch diesen Einsatz verhindern kann.«
Dieses Mal gewann ich das Blickduell gegen Papà. Mamma verzog den Mund. Auch wenn ich ihr ansehen konnte, wie sehr sie sich dagegen sträubte, mich gehen zu lassen, nannte Mamma mir ihre Bedingung: »Du kannst gehen, aber du wirst niemandem sagen, wer du wirklich bist.«
Damit hatte ich mich bereits abgefunden und gemeinsam mit Sebastien eine Tarnidentität entwickelt. Mamma nickte zu guter Letzt, versuchte sich sogar an einem Lächeln. Vielleicht lag da sogar ein Hauch von Stolz unter der tiefen Sorge in ihren Augen? Ich sprang auf, warf mich um ihren Hals und vergaß in dem Gefühlsrausch, die Luft anzuhalten. Den Geruch ihres schweren Rosenwassers würde ich für die nächsten Stunden nicht mehr aus der Nase bekommen. Doch selbst das war mir heute egal.
Gloria begleitete mich in mein Zimmer und ich bedankte mich für die Unterstützung, die durchaus überraschend kam. Ich war davon ausgegangen, dass sie mich zurückhalten wollte, mich beschützen. Doch ich war alt genug für eigene Entscheidungen, vielleicht hatte selbst Gloria das inzwischen eingesehen.
Gemeinsam packten wir meinen Koffer. Gloria ließ immer wieder fallen, wie neidisch sie war, dass ich die beiden Söhne der Gastgeberfamilie des Walpurgisrituals noch vor ihr sehen konnte. Sie erreichte damit ihr offensichtliches Ziel und lenkte mich von dem ab, was gleich kommen würde.
Der Duft nach Karamell und Popcorn, eine Mischung aus kribbelnder Erwartung und Vorfreude, überlagerte den beißenden Gestank meiner Angst, als ich nach dem Kofferpacken in die Küche ging.
Das schwarze Armband war der einzige Gegenstand auf dem Tisch. Die einzelnen verflochtenen Stränge spiegelten sich in der glänzenden weißen Oberfläche.
»Das ist es, was du willst?«, fragte mich unsere Haushälterin Abelarda mit rauer Stimme.
»Es ist, was ich tun muss. Sonst würde mich jeder als Hexe erkennen.« Ich setzte mich auf den Stuhl ihr gegenüber und legte meinen linken Arm neben das Armband. Sämtliche Instinkte drängten, den Arm sofort zurückzuziehen, mir nicht das nehmen zu lassen, was mich ausmachte. Magie.
»Niemand zwingt dich, Ela.« Sie fasste nach meiner Hand. Im Gegensatz zu Mammas Fingern waren ihre warm, ihr Griff fest.
»Ich weiß. Aber ich bin die Einzige, die etwas über die Dunkelmagier herausfinden kann. Sebastien ist etliche Möglichkeiten durchgegangen.« Ich ließ unerwähnt, dass ich bei der Gelegenheit potenzielle Ritualpartner noch vor den offiziellen Ballnächten begutachten konnte. »Nichts zu tun, wäre schlimmer.«
Abelarda nickte. »Es wird wehtun.«
Ich presste Zähne und Lippen fest aufeinander und wappnete mich für den Schmerz.
»Deine Magie wirkt nicht nur, wenn du sie aufrufst«, Abelarda nahm das Armband vorsichtig auf, um ja nicht den eingeflochtenen Hämatit zu berühren. »Du wirst dich anders fühlen, anders riechen und schmecken. Deine Instinkte könnten dich täuschen. Du wirst keine Magie wirken können, sie jedoch sehen.«
Die weitere Erklärung hing zwischen uns in der Luft. Wer die Magie sehen konnte, konnte auch verhext werden. Der Hämatit machte mich zu einer Wissenden wie die in die Welt der Hexen eingeführten Menschen. Mit meiner Mission würde ich dafür sorgen, dass man sie auch weiterhin einweihen musste, dass das Occultatum erneuert werden konnte und nicht alle Menschen wie früher das Leuchten der Magie sehen konnten und Jagd auf uns machten.
Ich holte tief Luft durch die Nase, roch den Lavendel, den Abelarda in ihrem Zimmer hängen hatte, ließ den Geschmack des Limonentees von ihrem Frühstück auf meiner Zunge zergehen, genoss noch ein letztes Mal die honiggleiche Süße, nach der ihre Fürsorge schmeckte.
Ein kaum hörbares Zischen brannte all die Gerüche weg. Ein Brennen setzte ein. Mein Herz begann zu rasen und alles geriet durcheinander. Meine Angst schmeckte plötzlich nach Karamell. Ich wollte meinen Arm zurückreißen, doch Abelarda hielt ihn fest und schloss mittels Magie den Verschluss des Armbands, während ihr Daumen beruhigend über meinen Handrücken fuhr.
Meine Hand wurde weiß wie der Tisch, auf dem sie lag. Ich sah zu, wie die sternenbildgleichen schwarzen Linien meiner Sigille aufleuchteten, als wirkte ich einen Zauber, ehe ihr Licht zusammen mit meinem Zeichen in den Stein gesogen wurde. Ich wollte aufschreien, doch es kam nur ein Stöhnen über meine Lippen. Der Schmerz der Verbrennung ließ nach und ich blinzelte die Tränen weg. Eine davon rollte über meine Wange. Schnell fuhr ich mit dem Handrücken darüber.
Die Welt wirkte verschwommen, weniger farbig und kontrastreich. Unsere Küche glänzte nicht wie zuvor, meine Nase nahm kaum mehr Abelardas vertrauten Lavendelduft wahr.
Ich hob die Hand und dachte an einen einfachen Zauber. Doch egal, wie stark ich mich konzentrierte und wie sehr ich den offenen Fensterflügel fixierte – er rührte sich nicht.
»Geht es dir gut?«, fragte Abelarda.
Weil ich meiner Stimme nicht traute, nickte ich nur und schluckte vergeblich gegen den Kloß in meiner Kehle an, rutschte den Stuhl nach hinten und ging zum ersten Mal seit langer Zeit ohne von Magie verstärkte Sinne die langen Flure der Villa Mescinia entlang zu meinem Zimmer und spürte dabei die Hilflosigkeit all jener Hexen längst vergangener Jahrhunderte, die von Menschen enttarnt und mithilfe eines Hämatits gebändigt und getötet worden waren. Etwas, was nie wieder geschehen sollte. Nie wieder geschehen durfte.
Der blauschimmernde Lufthauch streifte mich noch vor der eigentlichen Magie und ich stolperte aus dem Bus, geriet ins Taumeln und suchte vergeblich nach meinem Gleichgewicht. Im letzten Moment fand meine Hand Halt an der taufeuchten Wand des Wartehäuschens. Darauf klebte das inzwischen verblichene und verunstaltete alte Plakat zum 150. Jubiläum der Stadterhebung. Der Turm von Schloss Falk war gerade noch zu erkennen. Wie gerne würde ich ihn manchmal nutzen – in Situationen wie eben.
Der Westturm gehörte zur Silhouette von Falkhausen. Nur ahnte heute keiner mehr, dass in jenem Turm damals echte Hexen untergebracht waren.
Zwei Jungs aus meinem Bus gingen kopfschüttelnd an mir vorbei und ließen sich über meine Tollpatschigkeit aus. »Und so jemand unterrichtet im Gemeindezentrum Selbstverteidigung. Mein Cousin Max schwärmt ständig von ihm.«
»Vielleicht solltest du ihm mal erzählen, dass sein Idol zwei linke Füße hat.«
Es tat weh.
Nicht die Lästerei, sondern der Gedanke, dass der Typ Max von meiner Stolperei erzählen könnte. Wie gerne hätte ich ihm an den Kopf geworfen, dass er keine Ahnung hatte, weder er noch der Kerl an seiner Seite oder all die anderen, die gerade wie bunte Wellen aus den Bussen quollen und auf die Schule zustrebten. Schwatzend, miteinander scherzend, lachend. Oder ruhig und in sich gekehrt wie Alex, die gerade gedankenversunken an mir vorbeizog und mich nicht beachtete. Ich folgte ihr, achtete auf jeden Luftzug. Schrak beim Zischen der sich schließenden Bustüren zusammen und ignorierte die Blicke von Chris und Noah, die vor der Bäckerei standen und mich beobachteten.
Die Sonne wärmte meinen Rücken, während ich zusah, wie die letzten Busse abfuhren, die Wogen an Schülern versiegten. Ich stand noch immer vor dem Schulgebäude und wartete. Der Platz leerte sich zunehmend.
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