Hastig blinzelte ich die Tränen weg. Der Druck auf meine Augen verschwand nur langsam, die dunklen Fliesen des Pentagramms ringsum gewannen wieder an Kontur. Nach Luft ringend richtete ich mich auf. »Niemand weiß, wer ich bin. Ich werde sogar mit dem Zug anreisen, um jegliche magische Nachverfolgung unmöglich zu machen.«
Calliope sah zu Sato und ich flehte ihn stumm um ein Ja an. Gegen die Stimme des stellvertretenden Ratsvorsitzenden könnten auch meine Eltern nicht mehr einschreiten.
Die Wände des fensterlosen Raumes rückten näher, während Sato ganz offensichtlich das Für und Wider gegeneinander aufwog, seine eigene Position im Rat gegen das Wohl aller Hexen. Seine Zweifel tränkten die Luft, vermischten sich mit der rauchigen Note von Calliopes Macht.
Sein tiefer Atemzug durchbrach die gnadenlose Stille im Saal. Er nickte und ich stieß erleichtert die Luft aus.
Calliope sah weder unzufrieden noch froh aus. Sie war schwerer zu lesen als Sigillen. Ohne den zitrusähnlichen frischen Geruch, der zu mir durchdrang, hätte ich nicht vorhersehen können, wie ihre Antwort ausfallen würde.
»So sei es. Deinem Vorschlag wird zugestimmt. Wir werden ebenfalls nach Falkhausen reisen und uns dort einquartieren, damit du uns Bericht erstatten kannst.« Sie stand auf und ihre Sigille begann zu leuchten. »Adela Mescinia, finde denjenigen, der das Ritual sabotieren wird. Handle nicht auf eigene Faust. Du unterstehst dem Gesetz der Hexengemeinschaft wie alle anderen auch. Ziehe die Jäger hinzu, sobald ein hinreichender Verdacht besteht, dass die Weißroben eingreifen müssen.«
Das Leuchten an ihrem Unterarm wurde stärker, schwebte zu mir und sickerte als unsichtbare und dennoch unberechbare Anweisung in meine Haut. Ihre Abschiedsworte hingen noch im Raum, als sie bereits verschwunden war. »Bewahre das Erbe. Bewahre die Tradition.«
Zurück in unserer römischen Stadtvilla fragte ich mich, weshalb ich Angst vor Calliope gehabt hatte, wo meine Eltern noch viel Furcht einflößender sein konnten. Alfredo und Giulia Mescinia saßen mir gegenüber an dem überdimensionierten Esszimmertisch, lehnten sich in ihren von den Arbeiten in der Nacht schmutzigen Jägeruniformen steif gegen die hohen gepolsterten Stühle mit den Renaissance-Schnitzereien. Es war ja klar, dass sie mein Vorgehen im Rat missbilligten, aber jetzt war ihr Gesichtsausdruck geradezu inquisitorisch. Kaum dass Papà die Dienstboten fortgeschickt hatte, bröckelte ihrer beider Miene.
Mamma sah nun regelrecht gequält aus. Der Gedanke, dass ich dafür verantwortlich war, zerriss mir das Herz. Und doch musste ich mich beherrschen, durfte nicht nachgeben. Mir war klar, dass Mamma Angst um mich hatte, mich beschützen wollte. Aber wie meine Schwester Gloria immer sagte, würde sie mich nicht für immer beschützen können. Ich nahm ihre Hand und drückte sie sanft, bis Mamma wieder gefasster wirkte.
Wir schwiegen uns weiter an. Niemand sprach über die Vision der Auguren, die Prophezeiung, die es mir ermöglicht hatte, mich mit meinem Vorschlag an Calliope zu wenden. Es hätte auch niemand darüber sprechen können, selbst wenn er gewollt hätte. Erneut stieg Magensäure meine Speiseröhre empor, der bittere Geschmack des schwarzen Rauchs haftete noch auf meiner Zunge.
Doch gegenüber den beiden Personen, die mich nun voller widersprüchlicher Emotionen im Gesicht musterten, musste ich auch nicht darüber sprechen. Sie kannten die Prophezeiung genauso gut wie ich.
Um meine Aufregung und Nervosität zu verbergen, hatte ich meine Hände auf dem Schoß liegen, meine Fingernägel bohrten sich in meine Jeans. Die Zeit drängte. Und das wussten auch meine Eltern, ganz egal, was sie dabei empfanden.
Während sie schwiegen, starrte ich auf die bunten Flecken auf dem weitläufigen Marmorboden. Ich liebte diesen Moment des Tages, wenn die Sonnenstrahlen den kahlen großen Raum aus Weiß und Beige in ein Meer aus Farbtupfen verwandelten, sobald sie sich zu den Buntglasfenstern vorangetastet hatten. Von draußen drangen leise die Geräusche des erwachenden Roms an mein Ohr: Hupende Autos, weil es alle eilig zur Arbeit hatten, das Dröhnen der Kehrmaschinen, die all die Reste der nächtlichen Partys verschwinden ließen, ehe die Touristenbusse von Neuem anrollten. Die Müllautos waren glücklicherweise schon durch: Ihren Geruch konnte ich selbst durch die geschlossenen Fenster nicht ertragen und es hätte meinen gesamten Auftritt vor meinen Eltern versaut, wenn ich mich übergeben hätte. Dafür hatte ich zu lange auf eine solche Gelegenheit hingearbeitet. Nun konnte ich meine Eltern vor vollendete Tatsachen stellen.
»Calliope hat sich die Entscheidung nicht leicht gemacht«, sagte ich und rieb dabei über die Stelle an meinem Arm, an der das magische Dekret eingedrungen war. »Ich habe ihr und Sato meine Idee bereits letzte Woche präsentiert. Aber nach dem Anschlag letzte Nacht …«
Mehr musste ich nicht sagen. Mamma und Papà waren eben erst aus Deutschland zurückgekommen, kreidebleich und ausgezehrt von der Reise mittels Magie, der Sigillenfährte. Die beiden hatten dabei geholfen, den panischen Menschen, die mitten in der Nacht erst den Beweis für die Existenz von Magie gesehen hatten, die Erinnerung mithilfe des mächtigsten Zaubers der Jägergilde zu löschen. So etwas durfte nicht mehr passieren. Wir mussten die Dunkelmagier aufhalten und das wussten auch meine Eltern. Mein Vorschlag war die einzige Chance, diejenigen zu enttarnen, die das Walpurgisritual sabotieren wollten. Wenn wir sie nicht aufhielten, wäre es sinnlos, nach meinem Ritualpartner zu suchen, und wir könnten uns gleich für einen Krieg wappnen. Ein widerlicher Geschmack legte sich auf meine Zunge. Mammas Hand in meiner wurde eiskalt.
»Calliope hat mich direkt abgewiesen, obwohl Sebastien und ich sämtliche Möglichkeiten durchgegangen sind. Wir sind …«
»Dein Cousin hat dich dazu angestiftet?«, unterbrach mich Mamma und zog ihre Hand zurück.
Ich schüttelte den Kopf. »Das hat er nicht. Seit die Pr …, seit der Ban verhängt wurde, denke ich über eine Lösung nach. Meine Forschungen sind nicht weit genug, die Blutmagie zu entkräften. Die einzige Möglichkeit besteht darin, jemanden einzuschleusen.«
Papà verlor die Beherrschung. »Wie konnte Sato uns einfach übergehen?« Funken stoben von seinem Unterarm auf wie immer, wenn er seine Gefühle nicht unter Kontrolle hatte. Sato und Papà waren oft unterschiedlicher Meinung, jedoch nie zuvor hatte man meine Eltern aus einer Entscheidung ausgeschlossen. »Der Rat hat genug andere Spione!«
Ich schluckte und sah meinem Vater direkt in die Augen. »Ihr wisst genau, dass wir keine andere Möglichkeit haben.« Mit einem tiefen Atemzug wappnete ich mich davor, ihnen geradeheraus das vorzuwerfen, was ich die letzten Jahre nur Gloria und Sebastien gegenüber ausgesprochen hatte. Ich wusste, es würde sie verletzen. »Ihr habt mich aus Sorge die letzten Jahre über versteckt, mit dem Ban wurde ich sogar aus sämtlichen offiziellen Registern gelöscht. Das ist jetzt unser Vorteil. Niemand weiß, wie ich aussehe, niemand kennt meinen Namen. Es gibt niemanden, der mich erkennen und enttarnen kann, sobald ich den Hämatit angelegt habe. Und ich bin ebenso gut ausgebildet wie Gloria.«
Als hätte ich sie gerufen, tauchte meine Schwester in dem Moment auf, als in Mammas Gesicht ihr schlechtes Gewissen aufflackerte. Es roch für mich leicht säuerlich wie die meisten negativen Gefühle. Aber ich konzentrierte mich auf die frische Note, die Gloria mitbrachte. Sie setzte sich neben mich, nun stand es zwei gegen zwei. Ich war mir ganz sicher, dass sie gelauscht hatte, denn kaum, dass sie sich gesetzt hatte, polterten ihr die Worte aus dem Mund.
»Ela hat recht und das wisst ihr genau. Ihr lasst sie seit Jahren nicht mehr zum Unterricht oder zu den Zirkeltreffen.« Sie zählte die Punkte an ihren Fingern ab. »Sie darf ohne Garde nicht einmal mehr die Villa verlassen. Auf Elas Forschungsergebnissen steht mein Name und alle denken, dass ich das Genie und die Begabte in der Familie bin, die Auserwählte.« Sie spuckte das Wort beinahe aus. »Und seit dem letzten Jahr habt ihr sie auch noch aus den offiziellen Akten gelöscht. Niemand kennt sie oder weiß auch nur von ihrer Existenz.«
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