»Sprich weiter«, bat der Senator, während er spürte, wie sich seine Gesichtsmuskeln verspannten.
»Also, wie dir womöglich nach und nach im Fernsehen auffallen wird, falls du es eingeschaltet hast, ist alles wie geplant verlaufen, doch wir haben unser Soll nicht erfüllt.«
Kemiss schloss die Augen und atmete lange aus. Er wusste, dass sich Castellano absichtlich vage ausdrückte und darauf achtete, keinerlei Worte zu gebrauchen, die den aufwendigen Sicherheitsapparat in Gang setzten, der zur Abhörung von Gesprächen potenzieller Terroristen diente. Über das Prepaidfunknetz, in dem sie sich unterhielten, konnten Wörter wie Bombe, Ziel oder Operation einen elektronischen Überwachungsmechanismus auslösen, in dessen Zuge eine Datei angelegt wurde, die schließlich auf ihre Spur führte. Obwohl sie ihre Tarife bar bezahlt hatten und die Rückverfolgung spätestens an den Sendetürmen enden würde, die ihre Anrufe ermöglichten, war dies für Kemiss dennoch näher, als er irgendjemanden kommen lassen wollte. Mit alles bezog sich Castellano auf eine Autobombe, die eine Stunde zuvor an einem Gebäude der Liberty-Universität südlich von Davids Wohnort explodiert war; das »erfüllte Soll« wäre Dr. Abidan Kafnis Tod gewesen. Anscheinend hatte es nicht funktioniert.
»Und was ist mit unserem Freund?«, fragte Kemiss. »Wie kam er mit seinem Plan voran?«
»Er hat ihn umgesetzt«, antwortete Castellano. »Zwei sind fort, darunter der eine Besondere, aber …«
»Ihr habt dort alles dichtgemacht? Niemand kommt mehr rein oder raus, richtig?«
»Entspann dich, David. Beide Tatorte wurden gründlich abgesichert. Meine Abteilung ist vollends Herr der Lage und erstattet nur mir Bericht. Die Ermittlungen werden von verlässlichen Personen durchgeführt.«
»Und was hat es dann mit dem Aber auf sich?«
»Ein Notarzt wurde zu dem Anwesen gerufen, und man transportierte jemanden mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus.«
Der Senator biss auf die Zähne. »Gab es Beobachter?«, fragte er beim Ausatmen. Ihm war, als schnüre sich etwas um seine Brust, während er den Hörer immer fester packte.
»Das können wir noch nicht sagen«, entgegnete Castellano unverbindlich. »Wer auch immer der Verwundete sein mag, er wurde bewusstlos eingeliefert. Ob er etwas gesehen hat, wissen wir nicht.«
»Wir können uns nicht leisten, darauf zu warten, es zu erfahren.«
»Schon klar. Ich kümmre mich darum. Du hörst von mir.«
Kemiss klappte das Gerät zu und warf es über den Schreibtisch, wobei ein Glas mit Stiften umfiel. Dann lehnte er sich wieder im Sessel zurück und wischte mit einem Hemdsärmel Schweiß aus seinem Gesicht. Sein schlechtes Gewissen verursachte ihm Bauchgrimmen, und Magensäure brannte in seinem Rachen, während er im Sitzen nachdachte. Ihm war klar, dass die Menschen, derer Belange er sich annehmen sollte, zu den Opfern zählten und sehr wahrscheinlich ihre Leben in der Liberty-Universität gelassen hatten. Wie viele mochten es wohl sein? Ein Dutzend oder mehr? Es interessierte ihn nicht; er wollte sich ihretwegen keinen Kopf zerbrechen. Alles geschah nur im Sinne der Zielerfüllung. Die Personen, deren Belange ihn interessierten, waren er selbst und Seth Castellano. Die Existenz, die sie sich gemeinsam geschaffen hatten, stand auf der Kippe. Falls etwas schiefging, hatten sie beide ausgespielt.
Schließlich stand er auf und ging zu einem Erkerfenster, das auf die Blue Ridge Mountains westlich seines Hauses zeigte. Davor stand eine lange Tafel aus dem gleichen Nussholz wie der Schreibtisch – was auch für die Beistelltische zu beiden Seiten des dunkelroten Ledersofas an der Wand gegenüber seines Arbeitsplatzes galt, nicht zu vergessen die beiden bis unter die Decke reichenden Bücherregale voller Fachliteratur zu Staats-, Bundes- und internationalem Recht. Alle Möbel passten zueinander, sorgsam handgefertigt von amerikanischen Schreinern – und wie das Gros der Einrichtung seines Heims extrem teuer.
Auf dem Tisch standen auf einem Kristalltablett mehrere Glasflaschen. Er öffnete eine von ihnen, um sich einen doppelten Bourbon einzuschenken. Wie hatte es in seinem Privat- und Berufsleben nur so weit kommen können? David Kemiss – Harvard-Absolvent, renommierter Anwalt über die Landesgrenzen hinweg und dreimal wiedergewählter und somit dienstältester Senator in Virginia. Doch was er sich erarbeitet hatte, hing an einem seidenen Faden … oder nein, an etwas Dünnerem: einem Haar.
Er wusste genau, wieso er in dieser misslichen Lage steckte. Bei den Fragen in seinem Kopf handelte es sich um rhetorische. Seine politische Karriere verlief seit 2004 abwärts, als seine Partei die Präsidentenwahl mit seinem Namen auf der Liste verloren hatte. Als er durchs Erkerfenster schaute, stockte er beim Anblick seines Spiegelbildes im Glas. Sein Schopf war so grau, wie er sich seelisch fühlte. Und seine Moral war gemeinsam mit seinem Haaransatz geschwunden. In der Politik wurde mit harten Bandagen gekämpft. Er schob seine Drahtgestellbrille auf dem Nasenrücken hoch und drehte den Kopf zur Seite, um zum Dachfenster des Wohnzimmers unten zu schauen. Durch das Milchglas konnte er seine Kinder zwar nicht sehen, doch das Flimmern des Fernsehers ließ darauf schließen, dass sie noch da waren, wahrscheinlich ohne mitbekommen zu haben, dass er sich zurückgezogen hatte. Kurz dachte er an die anderen Familien, deren Leben durch die Handlungen beeinträchtigt waren, die er mit in die Wege geleitet hatte. Er kannte Abidan Kafni nicht sonderlich gut, war sich aber sicher, dass der Jude, der um die 50 sein musste, Kinder hatte, die bald herausfinden würden – falls sie es nicht bereits wussten –, dass ihr Vater nicht nach Hause zurückkehren würde. Dann kamen Kemiss die Familien in den Sinn, die noch leiden sollten, und zwar spätestens dann, wenn das alles bereits vorbei war. Für ihr Los gab es einen bestimmten Begriff: Kollateralschaden. Der Senator hob sein Glas und kippte den Bourbon hinunter, womit er die trübseligen Gedanken zu vertreiben suchte, während der Alkohol bis in seinen Magen brannte.
Die Tür des Arbeitszimmers wurde behutsam geöffnet, was ihn dennoch erstarren und erschrocken hinüberschauen ließ.
Eine leise, helle Stimme überraschte ihn: »Daddy, warum bist du gegangen?« Es war sein sechsjähriger Sohn Luke, der jüngere der beiden.
Er blieb in der Tür stehen, sodass das sanfte Licht im Flur seine zierliche Gestalt umriss. Der Senator lächelte ihn warmherzig an und ließ sich mit ausgebreiteten Armen auf einem Knie nieder. Der Junge stürmte in seine offenen Arme.
»Daddy musste einen wichtigen Anruf entgegennehmen, aber das ist jetzt erledigt.« Er strich dem Knaben die dunklen Haare von der Stirn. Noch einmal lächelte er und stand auf. »Geh wieder runter, du wirst den Schluss des Films verpassen. Ich komme gleich nach.«
Der Kleine wandte sich ab und ging hinaus, warf aber noch einen Blick über seine Schulter, als er sich der Tür näherte.
»Bin sofort da«, sagte Kemiss tonlos und winkte Luke hinaus. Er lauschte den dumpfen Schritten des barfüßigen Jungen auf der Treppe, bevor er sich wieder dem Fenster zukehrte. Wegen des Lichts auf dem Flur spiegelte er sich nicht mehr in der Scheibe, aber in letzter Zeit erkannte er sich ohnehin kaum wieder. Nachdem er sich einen zweiten Bourbon eingeschenkt und hinuntergestürzt hatte, stellte er das Glas aufs Tablett zurück und verließ den Raum ebenfalls.
20:06 Uhr, Eastern Standard Time, Freitag, Virginia Baptist Hospital, Lynchburg, Virginia
Seth Castellano fuhr mit seinem dunkelblauen Crown Victoria in die überdachte Aufnahme des kleineren der beiden Hauptkrankenhäuser im Großraum Lynchburg. Auf dem Gelände der mehrstöckigen Einrichtung mit Ziegelfassade ging es hektisch zu, da ein beunruhigend stetes Kommen und Gehen herrschte. Nachdem er auf dem betonierten Gehweg ausgestiegen war, der zum Haupteingang führte, hielt er dem Parkplatzwächter, der ihm gerade sagen wollte, dass er den Wagen dort nicht abstellen durfte, seine Marke vor. Der Mann wich zurück, und Castellano ging ohne weitere Worte vorbei, wobei er die Schultern hochzog, um seinen hellbraunen Trenchcoat zu richten, und den Kragen glatt strich, während er mehrere Krankenwagen ansteuerte, die vor dem verglasten Eingang standen.
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