Das Konzept der »MCD« konnte sich aber auch nur bedingt durchsetzen, da die methodischen Zugänge zu dessen Prüfung noch nicht vorhanden waren. Von daher ist es verständlich, dass man sich mehr auf die Verhaltensbeobachtung verlegte und das »Syndrom des hyperaktiven Kindes« nur beschrieb, wofür Stella Chess (1960) eine der wichtigsten Protagonisten war. Die Konzeption von Chess unterschied sich von ihren Vorgängern dadurch, dass sie die symptomatische und psychosoziale Prognose hyperaktiver Kinder als eher günstig ansah, wobei sie annahm, dass die Auffälligkeiten bis zur Pubertät zurückgegangen sein sollten. So bestand Ende 1960 die vorherrschende Sichtweise darin, dass die hyperkinetische Störung zwar eine Hirndysfunktion reflektiere, sich aber in einer gewissen Variationsbreite von Symptomen zu erkennen gäbe, wobei die allgemeine motorische Unruhe das vorherrschende Merkmal sei.
Während der 1960er Jahre entwickelte sich die Betrachtungsweise der hyperkinetischen Störung in Europa bzw. Nordamerika in unterschiedliche Richtungen. Kliniker in Europa behielten eine engere Sichtweise der Störung aufrecht und sahen die Symptome als ein eher seltenes Syndrom mit exzessiver motorischer Aktivität an, das üblicherweise in Verbindung mit einigen indirekten Zeichen einer Hirnschädigung stehe. Andererseits wurde in Nordamerika die Hyperaktivitätsstörung als ein häufiges Phänomen angesehen, das in den meisten Fällen nicht notwendigerweise mit sichtbaren Zeichen einer Hirnschädigung einhergehe. Diese Unterschiede gingen schließlich auch in die diagnostischen Klassifikationssysteme ein (International Classification of Diseases (ICD) der World Health Organisation 1992 und Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) der American Psychiatric Association 1980) und machen sich noch heute in niedrigeren Prävalenzraten für HKS gegenüber ADHS bemerkbar.
In den 1970er Jahren bewegte sich die wissenschaftliche Betrachtungsweise stärker von der motorischen Hyperaktivität weg und man begann, sich mehr und mehr mit den Aufmerksamkeitsaspekten der Störung zu befassen, wobei vor allem klinische Psychologen wie z. B. Virginia Douglas (1972) federführend waren. Verschiedene Autoren zeigten, dass hyperaktive Kinder große Schwierigkeiten hatten, bei jeweils gestellten Aufgaben die Daueraufmerksamkeit aufrecht zu erhalten. Gleichzeitig entwickelte sich eine Anschauung, dass hyperkinetisches Verhalten in erster Linie auf belastende Umgebungsfaktoren zurückzuführen sei. Diese Betrachtung traf mit einer gesellschaftlichen Bewegung zu einem gesünderen Lebensstil und einer gewissen Unzufriedenheit mit einer vermeintlich ausgeprägten Neigung zur Medikation bei Schulkindern zusammen.
Ferner wurde eine Bewegung aktiv, welche die Hyperaktivitätsstörung vornehmlich auf allergische Reaktionen und Nahrungsmittelunverträglichkeiten, insbesondere aber auf Nahrungszusatzstoffe zurückführen wollte (z. B. Feingold 1975). Schließlich wurden auch der allgemeine technische Fortschritt und andere kulturelle Einflüsse als ursächliche Faktoren verantwortlich gemacht. Parallel vollzog sich eine wissenschaftliche Entwicklung, welche in zunehmendem Umfang die Hyperaktivitätsstörung mittels psychophysiologischer Methoden untersuchte, um den pathologischen hirnfunktionellen Hintergrund besser zu verstehen. In dieser Zeit wurde also erneut deutlich, dass die Hyperaktivitätsstörung mit ihrer engen Verbindung zu auffälligem Sozialverhalten und Schulleistungsproblemen im Blickpunkt verschiedener Sichtweisen sowie gesellschaftlicher Bereiche steht und mehr Sachkenntnis für ein vertieftes Verständnis hilfreich ist.
Seit den 1970er Jahren schalteten sich mehr und mehr europäische und insbesondere auch deutsche Forscher in die wissenschaftlichen Themen zu ADHS ein, wie summarisch in Tabelle 1.2 dargestellt ist.
Tab. 1.2: Neuere Entwicklung der Beschäftigung mit ADHS im deutschsprachigen Raum
In den 1980er Jahren nahm die Forschungsaktivität im Feld mit der Entwicklung von Forschungskriterien und standardisierten Abklärungsprozeduren deutlich zu. Auch im Bereich der Behandlung konnten Fortschritte mit Methoden erzielt werden, die an der kognitiv-verhaltensorientierten Therapie (Freibergs und Douglas 1969; Gittelman 1981) orientiert waren. Zunehmend wurde die Hyperaktivitätsstörung als eine Auffälligkeit gewertet, die eine starke erbliche Komponente aufweist, von chronischem Verlauf ist und eine deutliche psychosoziale Beeinträchtigung vor allem hinsichtlich der schulischen und sozialen Entwicklung bedeutet. Damit bedurfte die Behandlung nicht nur der Medikamente, sondern einer integralen, multimodalen Vorgehensweise mit sich gegenseitig ergänzenden Fähigkeiten von verschiedenen Fachleuten.
Im Verlauf der 1990er Jahre wurde die Ausrichtung der Forschung auf die allgemeine motorische Unruhe und die Aufmerksamkeitsprobleme derart intensiv, dass mehr Forschungsliteratur als zu jeder anderen kinderpsychiatrischen Störung entstand. Dabei war die Variationsbreite und Intensität der Forschung beträchtlich, wobei sie tiefer in die Genetik und neurobiologischen Grundlagen der Hyperaktivitätsstörung eindrang (Rothenberger 1990). Zugleich nahm die Zahl an Untersuchungen zu, welche die Wirksamkeit und Sicherheit verschiedener Behandlungsmethoden vor allem in der Psychopharmakotherapie überprüften sowie die mit ADHS/HKS assoziierten psychiatrischen Störungen (z. B. Tic, Zwang, Autismus) in den Blick nahmen.
In dieser Zeit entstanden auch die ersten Leitlinien zu HKS bzw. ADHS (z. B. European Society for Child and Adolescent Psychiatry; Taylor et al. 1998, Update 2004; American Academy of Child and Adolescent Psychiatry, Practice Parameters 1997). Die Entwicklung von Leitlinien war als ein wichtiger Versuch zu verstehen, um die Vorgehensweisen in der Praxis mit der Forschungslage abzugleichen, zu standardisieren und im Sinne des Qualitätsmanagements weiter zu entwickeln. Diese Leitlinien betonen die Bedeutung der individualisierten, multimodalen, multidisziplinären Abklärung und Behandlung der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörungen durch versierte klinische Praktiker. Dabei wurde auch immer deutlicher, dass diese Störung sich nicht bei allen Kindern »auswächst«, sondern bei einem beträchtlichen Anteil der Betroffenen in das Jugendalter und sogar bis in das Erwachsenenalter anhalten kann. So konnte man seit etwa dem Jahr 2000 auch Zeuge einer Entwicklung werden, wie die Erwachsenenpsychiatrie allmählich von ADHS Kenntnis nahm und mittlerweile die Bedeutung der Störung hinsichtlich Differentialdiagnostik und Behandlung erkannt hat. In den letzten Jahren ist hinsichtlich ADHS bei Erwachsenen ein enormer Zuwachs an Erkenntnis und Erfahrung zu verzeichnen, der im vorliegenden Handbuch auch gebührend Berücksichtigung gefunden hat.
So lassen mehr als hundert Jahre Wissenschaftsgeschichte der ADHS/HKS eine Entwicklung erkennen, die von verschiedenen Einflüssen geprägt wurde. Dieser Sachverhalt kann nicht verwundern, denn dieses Thema steht nach wie vor im Schnittpunkt von Medizin, Psychologie, Pädagogik, Soziologie und Politik. Damit sind immer verschiedene Betrachtungsweisen verbunden und kontroverse Diskussionen sind oft unausweichlich. Diese Debatte kann nur durch Sachlichkeit fruchtbar und insbesondere zum Wohle der Betroffenen gestaltet werden. Die medizinische und psychologische, empirisch orientierte und evidenzbasierte Forschung trägt hier eine besondere Verantwortung, damit das Konzept der ADHS in Gegenwart und Zukunft immer überzeugender und wahrscheinlich auch differenzierter formuliert werden kann.
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