Dieser Gedanke verursachte Gunhild ein flaues Gefühl im Magen.
Wahrscheinlich wäre Natalie ohne sie jetzt nicht hier, Keiran nicht bei Magna und Ekko nicht tot.
Nein, korrigierte sie sich. Ekko wäre genauso tot.
Und Natalie und Keiran? Gunhild vertraute den beiden. Sie würden es schaffen, Magna zu besiegen und Grüenlant zu befreien.
Entschlossen wischte sie ihre negativen Gedanken beiseite.
Adana würde ihnen beistehen.
Am nächsten Morgen machte sich die kleine Gruppe auf den Weg durch den Blinden Fleck, nicht wissend, was sie erwarten würde. Damit keiner den Weg verfehlte, banden sie die Pferde aneinander. Es ritt immer ein Nicht-Magier zwischen zwei Magiern. Gernot machte den Anfang, es folgten Hekon, Gertrud, Mina, Timmon und Mallister. Natalie bildete den Abschluss. Sie ritten langsam, und schon bald hüllte der unheimliche Nebel sie ein. Mallister wurde es unbehaglich zumute. Damals, als er mit Gerbin hier unterwegs gewesen war, hatte er sich geschworen, dies nicht noch einmal zu tun. Er sah weder den Weg noch die Hand vor Augen und wieder einmal wurde ihm klar, woher der Blinde Fleck seinen Namen hatte. Er legte sich eng an den Hals seiner Stute. Ob sie den Weg sehen konnte? Sie schien sich ihrer Sache sicher zu sein … Um sich nicht völlig in der Blindheit zu verlieren, begann Mallister ein Gespräch mit dem Pferd.
„Kannst du irgendwas sehen? Diese Magier sind einfach verrückt. Kein normaler Mensch macht sowas! Warum habe ich mich überhaupt darauf eingelassen? Wer weiß, wie weit wir nach dem Tor noch durch diese Suppe reisen müssen … Ob Natalie weiß, was sie tut? Manchmal bin ich mir da nicht so sicher … Aber, was soll's, sie liebt ihn. Das reicht als Begründung …“
Und so plapperte er vor sich hin, und es half ihm dabei, nicht den Mut zu verlieren.
Ich hörte Mallister vor mir leise flüstern. Unwillkürlich musste ich schmunzeln. Er konnte einfach nie den Mund halten. Nach dem, was er mir geschildert hatte, musste die Reise für ihn aber auch viel unangenehmer sein als für mich. Angeblich sah er überhaupt nichts. Das konnte ich mir gar nicht vorstellen! Zwar sah auch ich wenig, aber der Weg leuchtete deutlich vor mir, als hätte jemand LEDs im Boden versenkt. Schemenhaft nahm ich auch den Wald wahr, durch den der Weg führte. Einer inneren Eingebung folgend holte ich den kleinen blauen Kristall aus der Tasche, den Keiran mir gegeben hatte. Er leuchtete hell und plötzlich drehte Mallister sich um. „Natalie? Was tust du?“
Ich zeigte ihm den Kristall. „Kannst du jetzt etwas sehen?“
Mallister sah mich erstaunt an. „J-ja, ich sehe sogar dich! Wir sind im Wald … Aber den Weg sehe ich trotzdem nicht.“
„Ich leihe ihn dir aus, wenn du mir versprichst, vorsichtig damit umzugehen. Er ist ein – besonderes Geschenk von Keiran.“
„Von Keiran?“ Mallister klappte der Mund auf und tatsächlich wusste er einmal nicht, was er sagen sollte.
„Ja – von Keiran.“
Ich lächelte ihn an und dachte daran, wie Keiran mir den Kristall gegeben hatte.
Gernot hatte darauf bestanden, den ganzen Tag im Sattel zu bleiben. Zu groß war die Gefahr, dass vor allem einer der Nicht-Magier verlorenging. So hatte sich jeder mit Nahrungsmitteln und Wasser für den ganzen Tag versorgt. Gegen Abend würden sie das Tor erreicht haben, er hoffte, dass sich dort die Gelegenheit für ein Nachtlager ergab.
Kurz vor ihrem Ziel hielt er die Gruppe an.
„Wir müssen vorsichtig sein! Um das Tor befinden sich meistens Späher, sowohl von uns als auch von Vârunger Seite. Ich gehe vor und überprüfe die Lage. Ihr wartet hier.“
Lautlos glitt er von seinem Pferd, welches einfach stehen blieb, und verschwand im dichten Nebel.
Gernot wollte den Pfad nicht verlassen, denn hier wäre er sonst verloren. So schlich er vorsichtig in Richtung Tor. Er wusste, wo sich die Späher aus Grüenlant aufhielten. Es gab eine kleine Hütte, in der sie ihr Lager bezogen, um sich im Nebel nicht ganz verloren zu fühlen. Da er wusste, wo diese Hütte stand, schlich er sich von hinten heran. Er wusste auch, dass die Späher vornehmlich das Tor und die Richtung nach Vârungen im Auge behielten – von hinten drohte in der Regel keine Gefahr und mehr war auch ob des dichten Nebels nicht machbar.
„Psst!“ Er klopfte leise an die Hütte. Niemand antwortete. Vorsichtig schob er die Tür auf und zuckte sofort wieder zurück. Ein unerträglicher Geruch schlug ihm entgegen, der süßliche Gestank von Verwesung und Tod. Gernot hielt sich ein Tuch vor Nase und Mund und überwand sich, einen Blick in die Hütte zu werfen.
Zwei Späher, beide waren tot, bestialisch ermordet, jemand hatte ihnen die Kehlen von einem Ohr zum anderen aufgeschlitzt. Die feuchte und klebrige Luft hatte ihr Übriges beigetragen. Die Körper waren aufgedunsen und grünlich, dienten bereits als Brutstätte für Fliegen, die sich selbst hier im dichten Nebel ausbreiteten. Sie waren bestimmt schon zwei Wochen tot. Gernot hatte genug gesehen, schnell drehte er sich weg. Er kämpfte gegen den sauren Geschmack, der sich mehr und mehr in seinem Mund ausbreitete. Draußen atmete er tief die neblige Luft ein.
Die verfeindeten Späher ließen sich in der Regel in Ruhe, jeder saß auf seiner Seite und solange niemand bedrohlich nahekam, ließen sie die jeweils anderen gewähren.
Es war also noch jemand hier gewesen, kurz nachdem Natalie und Keiran gekommen waren. Und dieser Jemand war ihnen nicht wohlgesonnen …
Natalie?
Gernot brauchte mehrere Anläufe, bis er sie erreichte. Dieser Nebel dämpfte einfach alles …
So hatte er Schwierigkeiten, ihr seine grausige Entdeckung mitzuteilen.
Das ist gar nicht gut! Gernot, komm zurück, unternimm nichts allein!
Natalie war spürbar besorgt, sodass Gernot sich zunächst auf den Rückweg zu den anderen machte.
Dort angekommen stellte er beunruhigt fest, dass es vor allem Mina und Mallister nicht gut ging. Timmon sprach gerade beruhigend auf den jungen Mann ein. Hekon, der es gewöhnt war, seine Gefühle zu verbergen, ließ sich nichts anmerken.
Gernot schlug vor, weiter vorn am Rand der Lichtung zu lagern, dort war der Nebel nicht so dicht. Vorerst hielt er die Gruppe jedoch noch im Schutz der Bäume an, denn auch auf Vârunger Seite gab es sicher Späher. Er wollte sich sofort auf den Weg machen, um die feindliche Seite zu erkunden.
„Gernot, allein ist es zu gefährlich!“, sagte Natalie. „Zu zweit sind wir stärker“, insistierte sie.
Es kostete ihn eine Menge Überzeugungskraft, ihr klar zu machen, dass es besser war, wenn sie bei ihren Freunden blieb und er die Lage zuerst allein peilte. So konnte er sich unauffälliger bewegen.
Und im Falle eines Falles wäre mit ihm nicht viel verloren. Diesen Gedanken behielt er jedoch für sich.
„Ich komme zurück. Wartet auf mich.“ Schon wurde er vom Nebel verschluckt.
„Wo sollen wir auch sonst hin?“, entgegnete Mallister missgelaunt.
In der Zwischenzeit schlugen wir unser Lager am Rande der Lichtung, die zum Tor führte, auf. Die Nebel flimmerten hier leicht gelblich und ließen zumindest einen kleinen Sichtradius frei. Ich versuchte, Keiran zu erreichen, hatte jedoch keine Chance, durch die Nebel zu ihm durchzudringen. Wo er jetzt wohl war? Als ich ihn das letzte Mal erreichen konnte, hatten sie die Wüste gerade hinter sich gelassen. Also müsste er nun bald auf der Vârburg ankommen. Dann würde Magna ihn wieder belästigen. Was würde sie tun, wenn er sich ihr widersetzte? Oder würde es ihr gelingen, ihn zu überzeugen? Nein … Ich musste ihm vertrauen. Und das tat ich, aus tiefstem Herzen.
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