Curt Riess, während des Zweiten Weltkriegs ein äußerst bekannter Nachrichtenkorrespondent, beschreibt das erste von Industriellen abgehaltene Treffen, bei dem es darum ging, sich auf die wahrscheinliche Niederlage vorzubereiten:
»Im Mai 1943, in der Folge der Niederlage von Stalingrad, trafen sich, wie Riess berichtete, deutsche Industrielle in der Villa Hügel, dem Anwesen der Krupps, und besprachen die Lage ihrer Nation. Ihre Entscheidung lautete, die deutsche Wirtschaft vom NS-Regime unabhängig zu machen, schrieb Riess und fügte hinzu: ›Alle bei dem Treffen diskutierten künftigen Änderungen konzentrierten sich auf die Idee, die deutsche Industrie so weit wie möglich vom Nationalsozialismus als solchem abzukoppeln. Krupp [von Bohlen und Halbach] und [der Direktor der I.G. Farben Georg von] Schnitzler erklärten, es würde ihre Arbeit nach dem Krieg sehr erleichtern, wenn die Welt sicher wäre, dass die deutsche Industrie nicht den Nazis gehört hätte und von diesen geleitet worden wäre. Er sagte, dass Göring ebenso wie viele andere einflussreiche Männer in der Partei dies genauso sehen und jeder Abmachung zustimmen würden, die das Ansehen der Partei nicht beschädige.« 45
Admiral Canaris unterstützte die besorgten Industriellen, mit der Hilfe Bormanns, bei ihren Kapitalflucht-Plänen. Canaris war ein erfahrener Mann, wenn es um die Bewegung großer Mengen Kapitals um die Welt ging, und Bormann lernte schnell, was zu tun war.
Nachdem die alliierten Mächte am 6. Juni 1944 erfolgreich in der Normandie gelandet waren und den seit langem erwarteten Brückenkopf für die Westfront errichtet hatten, verzweifelten Bormann und führende Industrielle fast an ihrer Aufgabe, Kapital und Ressourcen schnell genug aus Deutschland hinaus an neutrale internationale Orte und in die Antarktis zu schaffen. Am 10. August 1944 berief Bormann ein geheimes Treffen führender deutscher Industrieller ein und beauftragte schließlich seinen Gesandten, den SS-Obergruppenführer Dr. Scheid, ihnen auszurichten, dass der Krieg verloren sei.
Eine Akte des amerikanischen Militärgeheimdienstes, genannt »Red House Report«, enthält wichtige Details über die deutschen Firmen, die mit Bormann bei dem Kapitalflucht-Plan der Nazis zusammenarbeiteten. Dieses Dokument, datiert auf den 7. November 1944, beschreibt, wie deutsche Industrielle aufgefordert wurden, alle verfügbaren Vermögenswerte mit Hilfe Hunderter von Briefkastenfirmen, die eingerichtet wurden, um den starken Abfluss von NS-Kapital und industriellen Ressourcen zu tarnen, in neutrale Länder zu überführen. 46
Abb. 20: »Red House Report«
Die Quelle geheimer Befehle, die die Flucht von NS-Kapital billigte, war, laut Paul Manning, dem Autor des Buches Martin Bormann: Nazi in Exile (»Martin Bormann: Nazi im Exil«, nicht auf Deutsch erschienen), letztlich Bormann, dessen Einfluss in der NSDAP in dem Maße anwuchs, in dem Hitler angesichts der drohenden militärischen Niederlage verzweifelte. 47Diese Tatsache wird auch durch die Einbeziehung der SS in Gestalt von Scheid deutlich, die zeigt, dass auch Himmler wusste, dass Bormann die Zügel der Herrschaft in der Hand hielt, um eine solche Initiative zu starten, und dass die SS Bormann dabei unterstützen würde.
Bormann äußerte sich in seinen Anweisungen völlig unzweideutig darüber, wie Finanzgüter aus Deutschland fortgeschafft werden müssen, und sein Plan wurde von Scheid weitergegeben:
»Von jetzt an muss die deutsche Industrie begreifen, dass der Krieg nicht gewonnen werden kann und dass sie Schritte zu unternehmen hat, um für eine wirtschaftliche Kampagne nach dem Krieg gerüstet zu sein. Jeder Industrielle soll Verträge und Bündnisse mit ausländischen Firmen schließen, aber dies muss individuell geschehen und ohne irgendeinen Verdacht zu erregen. Darüber hinaus müssen die Grundlagen für ein finanzielles Niveau geschaffen werden, auf dem nach dem Krieg beträchtliche Summen von anderen Ländern geliehen werden können.« 48
Das größere Ziel von Bormanns Plan lag darin, durch verdeckte ökonomische Mittel die Entstehung eines neuen Deutschen Reiches, eines Vierten Reiches, wie es ebenfalls in dem Bericht beschrieben wird, zu ermöglichen und sicherzustellen:
»Es wurde festgestellt, dass die Nazi-Partei die Industriellen darüber in Kenntnis gesetzt hat, dass der Krieg praktisch verloren ist, aber so lange fortgesetzt wird, bis eine Garantie der Einheit Deutschlands erlangt werden kann. Die deutschen Industriellen müssen, wie gesagt wurde, durch ihre Exporte Deutschlands Stärke fördern. Weiterhin müssen sie sich darauf vorbereiten, die Nazi-Partei zu finanzieren, die gezwungen sein wird, in Gebirgsverteidigungsstellen in den Untergrund zu gehen. Von nun an würde die Regierung den Industriellen große Summen zuteilen, damit jeder einen sicheren Grundstock für die Nachkriegszeit im Ausland anlegen kann. Bestehende finanzielle Reserven in anderen Ländern müssen der Partei zur Verfügung gestellt werden, damit nach der Niederlage ein starkes Deutsches Reich geschaffen werden kann.« 49
Bormann bereitete die Gründung von sage und schreibe 750 Tarnfirmen für den Fluchtplan von NS-Kapital mit dem Namen Operation Adler vor. Sowohl Fritz Thyssen als auch der I.G. Farben-Konzern waren für diese Operation ausschlaggebend:
»Im Rahmen dieses Plans schuf Bormann, unterstützt von der schwarz uniformierten SS, der führenden Deutschen Bank, dem Stahlimperium von Fritz Thyssen und dem machtvollen I.G. Farben-Kombinat, 750 ausländische Tarnfirmen – 58 in Portugal, 112 in Spanien, 233 in Schweden, 214 in der Schweiz, 35 in der Türkei und 98 in Argentinien.« 50
Der gigantische Chemiekonzern I.G. Farben, der für sich selbst geradezu einen Staat im Staate bildete, hatte weitverzweigte internationale Partner, die für den Kapitalflucht-Plan genutzt wurden:
»Amerikanische Finanzuntersuchungen deckten Dokumente der I.G. Farben auf, die zeigten, dass die Firma Anteile an mehr als 700 Unternehmen weltweit besaß. Diese Anzahl schließt weder die normale Unternehmensstruktur der I.G. Farben ein, die 93 Länder umfasste, noch die im Rahmen von Bormanns Kapitalverschiebungsprogramm gegründeten 750 Firmen. Die I.G. Farben stand also im Zentrum der Transfers von Geld aus Deutschland. Sogar bereits vor Kriegsende verwalteten beispielsweise ›alle lateinamerikanischen Firmen der I.G. Farben in ihren Büchern nicht verzeichnete, geheime Bankkonten im Namen ihrer obersten Chefs‹, so Manning. Diese wurden verwendet, um vertrauliche Zahlungen zu erhalten und zu leisten; Firmen, die mit der I.G. Farben handelten, wollten diese Geschäfte so abwickeln, aber sie wollten ganz sicher nicht, dass britische und US-amerikanische Wirtschaftsbehörden davon erfahren.« 51
Ein Bericht der US-Armee, der für die Anklage von Managern der I.G. Farben beim Kriegsverbrechertribunal in Nürnberg ausgearbeitet wurde, beschreibt, welches Geschick die I.G. Farben bei der Tarnung ihrer internationalen Beteiligungen und der Ausübung von Kontrolle durch eine Vielzahl ökonomischer Werkzeuge entwickelte:
»Die Firma verschleierte ihre direkten und indirekten Eigentumsverhältnisse und Verfügungsgewalten über Hunderte ihrer ausländischen Tochterunternehmen mit Hilfe aller nur denkbaren Mittel, die dem legalen und ›außerrechtlichen‹ Denken bekannt sind, darunter der Einsatz von Strohmännern, Optionsverträge, erfundene oder zwischengeschaltete Transfers, Kartell-Absprachen, Übertragungen von Treuhand-Verwaltungen, Pfande, Lombardkredite, Vorkaufsrechte, Management- und Dienstleistungsverträge, Patentvereinbarungen, Kartelle und zurückgehaltenes Know-how. Geheimrat Hermann Schmitz, der Präsident der I.G. Farben, war in der gesamten industriellen Welt als ›Meister der finanziellen Verschleierung‹ bekannt.« 52
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