Eine solche unmittelbare Demokratie erfordert keine strukturierten politischen Organisationen, die nach dem Prinzip der internen Demokratie funktionieren; sie fördert vielmehr ein Vorgehen, sich zu einem bestehenden politischen Angebot zu bekennen. Interne Demokratie würde nämlich heißen, dass Strömungen existieren, Strategiedebatten, Konkurrenz zwischen Individuen, auf diese Weise sind Parteien üblicherweise strukturiert. Eine Bewegung kann hingegen nur ein kohärentes und zusammengehöriges Ganzes bilden, nach dem Bild des homogenen Volkes, dessen Geburtshelfer und Ausdruck sie sein will. Deshalb befindet sie sich im Einklang mit der neuen Welt der sozialen Netzwerke, in der sich die Kategorie des followers eingebürgert hat, um die typische Art der Beziehung zwischen den Individuen und einem Initiativpunkt zu bezeichnen.
Die Medienkritik, die im Zentrum der populistischen Rhetorik steht, muss im Hinblick auf dieses Unmittelbarkeitsprinzip verstanden werden. Trumps Beschimpfungen der Journalisten, Orbáns Vorwürfe gegen die Gefolgsleute von George Soros oder Mélenchons Aufrufe zu einem »gesunden und gerechten Hass auf die Medien« sind keine bloßen Wutausbrüche. Sie mögen zwar auch der Verärgerung und dem Groll über widerstrebende Kräfte entspringen, sind aber in erster Linie charakteristisch für eine Theorie unmittelbarer Demokratie, die den Anspruch vermittelnder Organe – und die Presse ist eines der wichtigsten von ihnen –, eine aktive Rolle bei der Gestaltung des öffentlichen Lebens und der Bildung der öffentlichen Meinung zu spielen, als strukturell illegitim zurückweist. Die Medien sind für sie Störfaktoren, die den Ausdruck des Gemeinwillens beeinträchtigen, und keine Organe, die zu seiner Bildung notwendig sind. Eine Illegitimität, die man als funktional bezeichnen könnte – hinsichtlich der Prämisse demokratischer Spontaneität –, verbunden mit einer moralischen Illegitimität, die aus der vermuteten Abhängigkeit von Partikularinteressen und Geldmächten resultiert.
1Chantal Mouffe, Das demokratische Paradox, S.22.
2Jean-Marie Le Pen, »Pour une vraie révolution française«, National Hebdo , 26. September 1985. Er grenzte sich damit von der Maurras’schen und konterrevolutionären Tradition des Rechtsextremismus ab, die den demokratischen Gedanken verwarf. Dieser Artikel markierte auch eine Abwendung von seiner eigenen vorherigen Skepsis eines »Churchilldemokraten«. Vgl. sein vorheriges Manifest Les Français d’abord von 1984.
3Ebd.
4Siehe das Kapitel »Rendre le pouvoir au peuple« des Programms Le Grand Changement , mit einem Vorwort von Jean-Marie Le Pen.
5Siehe exemplarisch Yvan Blot, Les Racines de la liberté (Kap. VIII, »Le modèle suisse«, und Kap. IX »Le recours: la démocratie authentique«) und La Démocratie directe: une chance pour la France .
6Rede im Zenith de Nantes, 26. Februar 2017. Sie sah sich zu diesem Zeitpunkt mit mehreren strafrechtlichen Ermittlungen konfrontiert, die sich sowohl auf die Abläufe in ihrer Partei als auch auf die Tatsache bezogen, dass sie persönliche Mitarbeiter*innen im Front national vom europäischen Parlament hatte bezahlen lassen.
7Siehe den typischen Artikel von Alain de Benoist, »Vers une juridictature«, Éléments , Nr. 178, Mai-Juni 2019. Siehe, in derselben Nummer, das gesamte Dossier »Les juges contre la démocratie. Pour en finir avec la dictature du droit«.
8Vergleiche meine diesbezüglichen Ausführungen (»Historische Anmerkungen zur Richterwahl«) in: Demokratische Legitimität. Unparteilichkeit, Reflexivität, Nähe .
9Die Formel stammt von Wladislaw Surkow, der in den 2000er Jahren die Rolle des organischen Intellektuellen und spin doctors für Putin spielte.
10Carl Schmitt (1888–1985) war einer der großen deutschen Rechtsgelehrten des 20. Jahrhunderts. Als fundierter Kritiker des Liberalismus und Parlamentarismus vertrat er eine realistische Sicht der (als Freund-Feind-Konflikt definierten) Politik und eine rassistische und unanimistische Auffassung des Volkes. Seine Entwicklung in Richtung Nationalsozialismus trug dazu bei, sein Denken zu diskreditieren; aber er wurde in den 1980er Jahren »wiederentdeckt«, von einer extremen Rechten auf der Suche nach Vordenkern und einer extremen Linken, die von seiner antiliberalen Radikalität und seinem Kult der Stärke fasziniert war.
11Siehe dazu Philippe Urfalino, »Un nouveau décisionnisme politique: la philosophie du populisme de gauche«, Archives de philosophie , Januar 2019. Hier ist daran zu erinnern, dass die Kritik an den »diskutierenden Klassen« sich wie ein roter Faden durch das antiliberale (heute würde man sagen, rechtsextreme) Denken zieht, von Donoso Cortés über Barrès und Maurras bis zu Carl Schmitt. Sie ist auch die Wurzel des Antiintellektualismus, der diese Autoren vereint. Ihrer Meinung nach muss die Logik der Intellektuellen zurückstehen hinter dem Instinkt der einfachen Leute, der allein eine richtige Beziehung zur Realität ausdrückt.
12So lautet übrigens die explizite Definition von Alain de Benoist in: Démocratie: le problème .
13Zitiert in dem Werk von Cas Mudde und Cristóbal Rovira Kaltwasser, Populismus: eine sehr kurze Einführung, S.40.
3Ein Repräsentationsmodus: der Homme-peuple
Der Populismus preist ein homogenes, in seiner Ablehnung der Eliten und Oligarchien vereintes Volk. Ein Volk auch, das eine politische Kaste verwünscht, die beschuldigt wird, nur Eigeninteressen zu verfolgen und keinen repräsentativen Charakter mehr zu haben. Daher die Ablehnung der Parteiform, die mit der Herrschaft realitätsferner Apparate und Gebetsmühlen gleichgesetzt bzw. beschuldigt wird, durch endlose Machtkämpfe konkurrierender Gruppen gelähmt zu werden. Insofern aus letzterem Grund die Bevorzugung einer anderen Art politischer Organisation: die der Bewegung. Neben ihrem ursprünglichen Anliegen, frisches Blut ins öffentliche Leben zu bringen, unterscheiden sich die populistischen Bewegungen auch strukturell von den Parteien. Waren die Parteien idealiter als organisierter Ausdruck spezifischer, sozial, territorial oder ideologisch definierter Gruppen gedacht, so erheben Bewegungen den Anspruch, die gesamte Gesellschaft zu umfassen. 1Die Repräsentation der Gesellschaft war über die Parteien leicht zu denken, weil diese ja gerade Ausdruck klar definierter, bestehender Realitäten waren (die Arbeiterklasse, die bäuerliche Welt, die Handwerker und Gewerbetreibenden, religiöse Gemeinschaften usw.). Mit den populistischen Bewegungen stellt sich die Sache anders dar. Sie bilden sich zunächst auf eine stärker negative Weise heraus, durch eine Reihe von Ablehnungen und Verwünschungen. Doch parallel dazu sind sie mit dem immer diffuseren Charakter des Volkes konfrontiert, als dessen Vorreiter sie sich verstehen. Der Niedergang der politischen Parteien hängt übrigens teilweise mit dieser Realität zusammen. Sie sind nicht nur Opfer ihrer Antiquiertheit und ihrer Verknöcherung: sie finden ihren Platz nicht mehr in einer Gesellschaft, die sich radikal verändert hat, einer Gesellschaft, in der die sozialen Verhältnisse immer fragmentierter sind. 2Auch in diesem Kontext hat die populistische Botschaft eine positive Aufnahme gefunden, weil ihre Globalisierung das Gefühl vermittelte, sie könne inmitten dieser Zersplitterung etwas Gemeinsames erzeugen. Doch reicht ihr anklägerischer Diskurs nicht aus, um den Repräsentationsmangel zu füllen, der die heutigen Demokratien charakterisiert. Daher die Rolle, die die Führungsfigur spielt, um dieser Botschaft Kohärenz und Wahrhaftigkeit zu verleihen.
Der lateinamerikanische Präzedenzfall
Der lateinamerikanische Populismus hat um die Mitte des 20. Jahrhunderts auf exemplarische Weise diese wesentliche Dimension der heutigen Populismen veranschaulicht. Das ist nicht verwunderlich, denn er tauchte in gering industrialisierten Ländern auf, die weniger in Klassen geteilt als von latifundistischen und oligarchischen Herrschaftsformen bestimmt waren. Der Gegensatz zwischen Volk und Eliten war somit für einen Großteil der Bürger*innen am einleuchtendsten. In diesem Kontext trat die Thematik des Homme-peuple in Erscheinung. »Ich bin kein Mensch, ich bin ein Volk«, dieser bis zum Überdruss wiederholte Satz der kolumbianischen Führerfigur der 1930er und 1940er Jahre, Jorge Eliécer Gaitán 3, gab die Richtung vor für die späteren Populismen auf dem ganzen Kontinent. Sein Lebenslauf verdient, einen Augenblick bei ihm zu verweilen, denn in ihm drückt sich die Doppelnatur dieses kommenden Populismus aus, der ebenso vehement antikapitalistisch wie fasziniert von den seinerzeit im Aufstieg befindlichen Faschismen war. Als Student in Rom schrieb er 1926–1927 eine Doktorarbeit bei Enrico Ferri, einem berühmten, vom Sozialismus zum Faschismus gewechselten Kriminologen, der zu seinem Förderer wurde. Gaitán hatte mehrfach Gelegenheit, an Versammlungen von Mussolini teilzunehmen und zeigte sich beeindruckt von dessen Fähigkeit, seine Zuhörer*innen zu beherrschen und die Energie einer Menge zu steuern. Er studierte sogar sorgfältig die Gestik des Duce und seine Art, die Stimme zu modulieren, um sich der Aufmerksamkeit seines Publikums zu versichern – Techniken, die er für sein eigenes politisches Handeln in Kolumbien übernahm. Als »Kandidat des Volkes« wurde Gaitán, zugleich Antikapitalist und Gegner der traditionellen Oligarchie, im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen von 1948 ermordet (wir kommen später auf sein Werk zurück). Seit dieser Zeit steht sein Name symbolisch für den lateinamerikanischen Populismus, in seiner Sprache wie in seinem antioligarchischen Engagement, mitsamt seinen Ambiguitäten. Er wurde von Fidel Castro ebenso bewundert wie von Juan Perón. Perón, der sich ebenfalls als Homme-peuple verstand, der von »Depersonalisierung« sprach, um die Pläne zu bezeichnen, die die Revolution in ihm angelegt habe 4, und davon überzeugt war, dass seine Individualität in der der Argentinier*innen aufgegangen sei.
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