Herr Winkle dachte, dieser Rat wäre etwa der gleiche, den man gewöhnlich bei einem Gassengefecht den kleinsten Knaben zu geben pflegt – nämlich: »Geh' hin und prügle ihn tüchtig durch« –, etwas, was sich recht gut hören läßt, wenn man nur wüßte, wie es anzugreifen wäre. Er legte jedoch schweigend seinen Mantel ab – er brauchte eine geraume Weile, bis er damit zustande kam – und ergriff die Pistole. Die Sekundanten traten zurück, der Mann auf dem Feldstuhle tat ein Gleiches, und die Duellanten gingen aufeinander los.
Herr Winkle stand in dem Rufe einer außerordentlichen Humanität. Vermutlich war auch sein Wunsch, keinen Menschen absichtlich zu verletzen, die einzige Ursache, warum er, sobald er an der verhängnisvollen Stelle angelangt war, die Augen schloß und daher das außerordentliche und unerklärliche Benehmen des Doktor Slammer nicht gewahren konnte. Dieser Herr stutzte nämlich, sah seinen Gegner an, trat zurück, rieb sich die Augen, sah wieder hin und rief endlich: »Halt! Halt!«
»Was soll das?« sagte Doktor Slammer, als die beiden Sekundanten herzutraten. »Das ist nicht der Mann.«
»Nicht der Mann?« versetzte Doktor Slammers Freund.
»Nicht der Mann?« sagte Herr Snodgraß.
»Nicht der Mann?« rief der Gentleman mit dem Feldstuhle in der Hand.
»Gewiß nicht«, entgegnete der kleine Doktor. »Das ist nicht die Person, die mich gestern nacht beleidigte.«
»Höchst sonderbar!« rief der Offizier.
»Gewiß sonderbar!« sagte der Gentleman mit dem Feldstuhle. »Es handelt sich indes jetzt darum, ob dieser Herr, da er auf dem Kampfplatz erschien, nicht formell als das Individuum betrachtet werden muß, das gestern nacht unsern Freund, Doktor Slammer, beleidigte, mag es nun dieselbe Person sein oder nicht.«
Nachdem der Mann mit dem Feldstuhle diese Ansicht mit einer gar weisen und geheimnisvollen Miene abgegeben hatte, nahm er eine starke Prise Tabak und blickte wie ein Mann umher, der in einer solchen Angelegenheit als Autorität gilt. Herr Winkle hatte jetzt die Augen geöffnet – und die Ohren dazu, als er seinen Gegner von Einstellung der Feindseligkeiten sprechen hörte. Er sah nun ein, daß – wie er später gleich am Anfang gewußt haben wollte – ohne Frage ein Mißverständnis stattfinden mußte, und daß er sein Ansehen ungemein steigern könnte, wenn er den wahren Grund seines Erscheinens auf dem Kampfplatze verschwieg. Er trat daher kühn vorwärts und sprach:
»Nein, ich bin's nicht. Ich weiß es.«
»Dann ist es eine Verhöhnung des Doktor Slammer«, sagte der Mann mit dem Feldstuhl. »Grund genug, in der Sache fortzufahren.«
»Bitte, beruhigen Sie sich, Payne«, entgegnete ihm der Sekundant des Doktors. »Warum haben Sie mir das nicht heute morgen mitgeteilt, Sir?«
»Ja, ja; warum – warum?« fügte der Mann mit dem Feldstuhle unwillig zu.
»Ich bitte, lassen Sie mich machen, Payne«, sagte der Offizier. »Muß ich meine Frage wiederholen, Sir?«
»Weil Sie, Sir« – entgegnete Herr Winkle, der inzwischen Zeit gehabt hatte, über eine passende Antwort nachzudenken – »weil Sie, Sir, eine betrunkene und alles Anstandes bare Person als den Träger eines Rockes bezeichneten – den ich nicht nur zu tragen, sondern sogar erfunden zu haben die Ehre habe – der angenommenen Uniform des Pickwick-Klubs in London, Sir. Ich fühlte mich verpflichtet, die Ehre dieser Uniform zu verteidigen, und aus keinem andern Grunde, Sir, habe ich diese Herausforderung ohne weitere Nachfrage angenommen.«
»Mein lieber Herr,« sagte der gutmütige kleine Doktor, der mit ausgestreckter Hand herantrat, »ich ehre Ihren ritterlichen Mut. Erlauben Sie mir, Sir, Ihnen zu sagen, daß ich Ihr Benehmen höchlich bewundere und daß ich außerordentlich bedauere, Sie für nichts und wieder nichts hierher bemüht zu haben.«
»Ich bitte, sprechen Sie nicht davon«, versetzte Herr Winkle.
»Ich werde stolz darauf sein, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben, Sir«, sagte der kleine Doktor.
»Auch mir gewährt es das größte Vergnügen, Sie kennengelernt zu haben«, entgegnete Herr Winkle.
Und nun drückten sich der Herr Doktor und Herr Winkle die Hände; ein gleiches taten dann Herr Winkle und Leutnant Tappleton (der Sekundant des Doktors), dann Herr Winkle und der Mann mit dem Feldstuhl, und endlich Herr Winkle und Herr Snodgraß – der letztgenannte in einem Übermaße von Bewunderung über das noble Benehmen seines heldenmütigen Freundes.
»Ich denke, wir können jetzt wieder nach Hause gehen«, sagte Leutnant Tappleton.
»Gewiß«, erklärte der Doktor.
»Wenn nicht etwa« – fügte der Mann mit dem Feldstuhle hinzu – »wenn nicht etwa Herr Winkle sich durch die Herausforderung beleidigt fühlt, in welchem Falle er natürlich das Recht hat, Genugtuung zu verlangen.«
Herr Winkle erklärte mit großer Selbstverleugnung, daß ihm bereits hinlängliche Satisfaktion geleistet sei.
»Vielleicht fühlt sich aber der Sekundant des Gentleman durch einige Bemerkungen, die ich fallen ließ, verletzt«, fuhr der Mann mit dem Feldstuhl fort. »Wäre dies der Fall, so würde ich mich glücklich schätzen, ihm auf der Stelle Genugtuung zu bieten.«
Herr Snodgraß äußerte sogleich, er wäre dem Gentleman für sein schönes Anerbieten sehr verbunden, sehe sich im übrigen veranlaßt, es abzulehnen, da er durch den ganzen Verlauf der Sache sehr befriedigt worden. Die beiden Sekundanten schlossen ihre Waffenfutterale, und alle verließen den Kampfplatz heiterer, als sie sich diesem genähert hatten.
»Bleiben Sie lange hier?« fragte Doktor Slammer den Herrn Winkle, als sie ganz freundschaftlich nebeneinander hergingen.
»Ich denke, wir werden übermorgen Rochester verlassen«, lautete die Antwort.
»So hoffe ich, das Vergnügen zu haben, Sie und Ihren Freund auf meinem Zimmer zu sehen, damit wir nach diesem widerwärtigen Mißverständnis noch einen vergnügten Abend miteinander zubringen«, sagte der kleine Doktor. »Sie sind doch nicht für heute versagt?«
»Wir haben noch einige Freunde hier«, versetzte Herr Winkle, »von denen wir uns ungern trennen möchten. Vielleicht besuchen Sie und Ihre Freunde uns im Ochsen?«
»Mit vielem Vergnügen«, entgegnete der kleine Doktor. »Wird zehn Uhr zu spät sein, um noch ein halbes Stündchen bei Ihnen vorzusprechen?«
»Durchaus nicht«, erwiderte Herr Winkle. »Ich werde mich glücklich schätzen, Sie meinen Freunden, Herrn Pickwick und Herrn Tupman, vorzustellen.«
»Wird mir eine große Ehre sein«, meinte Doktor Slammer, der sich nicht träumen ließ, wer wohl Herr Tupman wäre.
»Wir dürfen also auf Sie zählen?« sagte Herr Snodgraß.
»Gewiß.«
Inzwischen hatten sie die Landstraße wieder erreicht. Sie nahmen herzlichen Abschied voneinander und trennten sich. Doktor Slammer begab sich mit seinen Freunden nach der Kaserne, und Herr Winkle kehrte, von Herrn Snodgraß begleitet, nach dem Gasthofe zurück.
Drittes Kapitel: Eine neue Bekanntschaft. Die Erzählung des wandernden Schauspielers. Eine unangenehme Störung und ein unerfreuliches Zusammentreffen.
Herr Pickwick war in Sorgen wegen des ungewöhnlich langen Ausbleibens seiner zwei Freunde, und ihr geheimnisvolles Benehmen während des ganzen Morgens trug keineswegs dazu bei, sie zu vermindern. Um so größer war seine Freude, als er sie wieder ins Zimmer treten sah; und nun ging es an ein Fragen, was ihn so lang ihrer Gesellschaft beraubt hätte. Herr Snodgraß schickte sich eben zur Beantwortung dieser Fragen an, eine getreue, umständliche Erzählung der Ereignisse des Tages zu beginnen, als er plötzlich innehielt, denn er bemerkte, daß außer Herrn Tupman auch noch ihr Reisegefährte von gestern und ein zweiter Fremder von gleich wunderlichem Äußeren zugegen waren. Der letztere war ein Mann, dessen fahles Gesicht und eingesunkene Augen die Spuren von Kummer trugen, während das straffe schwarze Haar, das ihm wirr über die Stirn herunterhing, die von Natur schon genug ausgeprägten Züge nur noch auffallender machte. Seine stechenden Augen hatten einen fast unnatürlichen Glanz, seine Backenknochen traten stark hervor und sein Unterkiefer war so lang und hager, daß man hätte glauben können, seine Züge wären durch Muskelanstrengung für einen Augenblick zusammengepreßt, wenn nicht der halbgeöffnete Mund und der unbewegliche Ausdruck angezeigt hätten, daß dies das natürliche Aussehen des Mannes sei. Um seinen Hals war eine dichte grüne Binde geschlungen, deren breite Enden über die Brust herunterhingen und sogar noch durch die Knopflöcher seiner alten Weste hervorsahen. Außerdem trug er noch einen langen schwarzen Überrock, weite braune Beinkleider und große, ziemlich schadhafte Stiefeln.
Читать дальше