Wie bei Ärzten, die eine Krankheit diagnostizieren, besteht die Aufgabe von Wissenschaftlern und Historikern darin, nach natürlichen Ursachen zu suchen. Wir suchen nach rationalen Erklärungen, warum etwas so geschehen ist, wie es geschah. Wenn es also um den scheinbar unerklärlichen kometenhaften Aufstieg der Kirche geht, bin ich davon überzeugt, dass wir die Erklärung derjenigen akzeptieren sollten, die den tatsächlichen Ereignissen am nächsten sind. Die Zeugenaussagen von Petrus, Lukas, Jakobus, Paulus und anderen geben ausführliche Erklärungen dafür ab, warum die Jesus-Bewegung nicht nur das erste Jahrhundert überlebt hat, sondern am Ende gerade auch die politische und religiöse Maschinerie überwunden hat, die darauf abzielte, sie zu zerstören.
Im Spannungsfeld zwischen dem jüdischen Tempel und dem Römischen Reich hätte die Jesus-Bewegung direkt neben ihrem Gründer begraben werden müssen. Doch das wurde sie nicht. Genau jetzt, in diesem Moment, besuchen Christen aus aller Welt die Ruinen des Forum Romanum, während zweieinhalbtausend Kilometer entfernt andere Touristen ihre Erinnerungsfotos vom Tempelberg schießen. Rom ist mit Kreuzen geschmückt. Jerusalem ist voll von christlichen Touristen.
Rom und Jerusalem sind durch die Kirche wie siamesische Zwillinge verbunden. Vor zweitausend Jahren war das Kreuz ein ebenso häufiges wie brutales Hinrichtungsgerät. Ein Symbol für die Macht des Römischen Reiches. Heute ist es ein Symbol für die Macht Gottes.
Wie ist das geschehen?
Was können wir daraus lernen?
Und vor allem, könnte so etwas wieder geschehen?
Ich glaube, schon.
NEU, KEIN UPDATE!
Jesus betrat die Bühne der Geschichte, um etwas Neues vorzustellen.
Er kam nicht nach Jerusalem, um eine neue Version von etwas Altem oder ein Update von etwas bereits Bestehendem anzubieten. Er kam nicht, um etwas besser zu machen. Jesus wurde vom Vater gesandt, um etwas völlig Neues vorzustellen. Menschen versammelten sich zu Tausenden, um das zu hören. Um zu sehen. Um zu erfahren. Lesen Sie das Markusevangelium und streichen Sie das Wort Volk an. In praktisch jedem Kapitel gibt es eine Menschenmenge.
Aber es war nicht einfach nur seine neue Botschaft, mit der Jesus Menschen in Bewegung brachte. Es war Jesus selbst. Menschen, die überhaupt nicht wie er waren, mochten ihn. Und Jesus mochte Menschen, die überhaupt nicht wie er waren. Jesus lud ungläubige, sich schlecht benehmende, Unruhe stiftende Männer und Frauen ein, ihm nachzufolgen und etwas Neues anzunehmen – und sie nahmen seine Einladung an.
Als Nachfolger Jesu sollte man uns als Menschen kennen, die Menschen mögen, die nicht wie wir sind. Wenn wir ungläubige, sich schlecht benehmende Unruhestifter einladen, sich uns anzuschließen, sollten sie daran interessiert – wenn nicht sogar dazu geneigt – sein, unsere Einladung anzunehmen.
„Pastor Stanley, warum geht in Amerika nicht jeder in die Kirche?“
DIE WIDERSTÄNDLER
In den Evangelien finden wir zwei Gruppen, die Jesus als Bedrohung sahen – die Selbstgerechten und diejenigen, deren politisches und finanzielles Wohlergehen durch den zerbrechlichen Frieden zwischen Tempel *und Römerreich gesichert wurde.
In den meisten Fällen zielten die Kritiker Jesu nicht auf seinen Charakter ab. Niemand beschuldigte ihn, unmoralisch, unehrlich oder grausam zu sein. Nein, die meisten fühlten sich von seiner Lehre und seiner Popularität bedroht. Religiöse Führer rund um Jerusalem waren eifersüchtig auf die Gunst, die er beim Volk fand. Wenn man die Abschriften seiner Gerichtsverhandlungen liest, kommt man nicht umhin, Pilatus zuzustimmen, als er den Anklägern Jesu verkündigte:
„Ich sehe keinen Grund, diesen Mann zu verurteilen! Er ist unschuldig.“2
Er sah keinen Grund, weil da keiner war.
Pilatus wusste, warum die Anführer aus dem Tempel darauf bestanden, dass Jesus gekreuzigt wird. Es hatte nichts mit ihrem Gesetz oder ihrer exklusiven Religion zu tun. Sie wollten einfach nur Jesus aus „Eigeninteresse“ loswerden.3
Der entscheidende Punkt für die Gegner von Jesus war kein Skandal. Es war ein Wunder. Ein außergewöhnlicher Akt voller Mitgefühl. Jesus hatte einen bekannten Bürger der Stadt von den Toten auferweckt. Als die Nachricht dieses Wunders in Umlauf kam, beriefen die Hohepriester und Pharisäer eine Sitzung des Sanhedrins ein. Das mag für uns nicht viel bedeuten, aber im Judäa des ersten Jahrhunderts war es ungewöhnlich.
Diese Gruppen waren sich in fast allem uneinig. Aber in Jesus fanden sie eine Gemeinsamkeit. Eine gemeinsame Bedrohung. Einen gemeinsamen Feind.
Nach mehreren Versuchen war es keiner der beiden Gruppen gelungen, Jesu Einfluss auf die Menge zu verringern. In einem Moment der Verzweiflung verbündeten sie sich daher. Alles, was sie brauchten, war ein … wie hat Pilatus es ausgedrückt? Einen Grund für eine Anklage. Der Apostel Johannes kannte oder traf später jemanden, der dort dabei gewesen war. Irgendwann übernahmen die Emotionen von einigen die Kontrolle über deren Mund, und sie platzten damit heraus, was schon jeder im Raum dachte:
„Was sollen wir bloß tun? Dieser Jesus vollbringt viele Wunder, und wenn wir nichts gegen ihn unternehmen, wird bald das ganze Volk an ihn glauben. Dann werden die Römer eingreifen, uns den Tempel wegnehmen und auch das Volk.“4
Vierzig Jahre später geschah genau das.
Mehr dazu in Kürze.
Am Ende konnten die religiösen Anführer einen Grund für eine Anklage fabrizieren. Jesus wurde wegen schlechter Theologie und terroristischer Drohungen gegen den Tempel für schuldig befunden. Pilatus machte bei der Scharade mit, um die Leute bei Laune zu halten, die dann die übrigen Leute bei Laune gehalten haben.
Hierbei ging es nie um Gerechtigkeit.
Es war kein Verbrechen begangen worden.
Wenn wir ein wenig Abstand nehmen von dem Chaos und der rasanten Folge von Ereignissen, die zu seiner Kreuzigung führten, ist völlig klar, dass Jesus verhaftet und gekreuzigt wurde, weil er zu beliebt war. Er wurde gekreuzigt, weil er zu viele Menschen angezogen hatte. Menschen, die überhaupt nicht wie er waren, mochten ihn. Und er mochte sie auch. Es war schwer, ihm zu widerstehen. Das merkten selbst die, welche in Jerusalem das Sagen behalten wollten. Es war fast unmöglich, ihm zuzuhören, zuzusehen und ihn dann noch abzuweisen. Warum? Er bot etwas Neues an. Etwas ganz Neues.
Aber das Neue passt selten denen, deren Wohlstand eng mit dem Alten verknüpft ist. Diejenigen, die vom Status quo am meisten profitieren, sind am wenigsten geneigt, ihn irgendwie infrage zu stellen.
Die unerwartete Wendung dieser Geschichte war, dass Jesu Kreuzigung mehr ein Anfang als ein Ende war. Sein Tod setzte das Neue in Gang, von dem er in seinem öffentlichen Dienst gesprochen hatte – das Neue, das von alttestamentlichen Propheten vorhergesagt und schon im ersten Buch Mose, der Genesis, angedeutet wurde. Was die Feinde Jesu nicht wussten – nicht wissen konnten – war, dass das Ende des Lebens Jesu zwar ein Ende brachte, doch das war nicht das Ende, das sie sich vorgestellt hatten. Sein Tod und seine Auferstehung lösten eine Kette von Ereignissen aus, die schließlich das Ende des antiken Judentums und des Römischen Reiches in seiner damaligen Form nach sich zogen, des Reiches, das unmittelbar für seinen Tod verantwortlich war.
DIE JESUS-BEWEGUNG
Nach der Auferstehung begannen die neu motivierten Nachfolger Jesu zu verstehen, dass er nicht gekommen war, um der Geschichte Israels einfach nur ein weiteres Kapitel hinzuzufügen. Jesus war nicht gekommen, um eine neue Version des Judentums einzuführen. Seine Bewegung war nicht regional beschränkt. Die Jesus-Bewegung war universal. Sie war für alle Nationen. Seine Anhänger behaupteten, Jesus sei das endgültige Opfer für die Sünde, wodurch der jüdische Tempel überflüssig geworden sei. Aber nicht nur der jüdische Tempel. Ungefähr zwanzig Jahre nach Ostern kam Paulus nach Athen und war nicht gerade begeistert, als er die zahllosen Götzenbilder sah. Er diskutierte mit den Leuten auf dem Marktplatz, später dann in ihrem Stadtsaal.5 Ohne direkt den Götzenkult anzuprangern, sprach er sie auf ein „Denkmal“ an, das die Inschrift trug: Dem unbekannten Gott. Das war die Versicherung der Athener, dass im Falle des Falles sie einen der Götter vergessen hätten, dieser nicht vollkommen zornig würde. Jedenfalls hatte Paulus den idealen Anknüpfungspunkt gefunden. Und er wies sie darauf hin, dass der Gott, den er ihnen nahebringen wollte, Verständnis für ihre Unwissenheit hatte.6 Aber nun war es an der Zeit, dass die Athener erwachsen wurden und den lebendigen, sozusagen mobilen Gott für alle Nationen als den einzigen anerkennen sollten.
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