Er nickte.
„Pastor“, sagte sie, „warum geht in Amerika nicht jeder in die Kirche?“
Ich habe mich bis heute nicht von ihrer Frage erholt.
Ich hatte keine Ahnung, was ich antworten sollte. Ich weiß es noch immer nicht.
Wie erklärt man einer jungen Dame, die zwei Stunden Bus fährt, um einen Gottesdienst in einer anderen Stadt zu besuchen, tausende halb- bis fast leere Gemeinden? Einer jungen Dame, die jedes Mal da wäre, wenn die Tür geöffnet würde, wenn es nur eine Tür gäbe, die geöffnet werden könnte? Die Bibelstunde, die sie besuchte, war Teil eines Netzwerks von Untergrundgemeinden, die von der chinesischen Regierung als nichtregistrierte Kirchen bezeichnet werden. Ihre Teilnahme stellte ein Risiko für sie dar. Der Besitz einer Bibel stellte ein Risiko für sie dar. Vor ihrem Chef über ihren Gemeindebesuch zu sprechen, stellte ein Risiko für sie dar.
Stellen Sie sich ihren Schock vor, wenn sie entdecken würde, dass die meisten amerikanischen Christen nicht nur die Bibel nicht lesen, sondern es dazu noch in den meisten Gemeinden einen Schrank voller Bibeln gibt, die unangetastet gleichsam zurückgelassen werden wie in dem Film Left Behind.
Ich erinnere mich nicht mehr daran, was ich geantwortet habe. Ich sagte etwas völlig Belangloses. Aber ich habe ihre Frage nicht vergessen. Sie treibt mich seither um. Ihre Frage ist einer der Gründe, warum ich dieses Buch geschrieben habe.
Warum also geht in der westlichen Welt nicht jeder in die Kirche?
Warum sind die meisten Gemeinden so gar nicht unwiderstehlich?
Jesus war nicht so.
Und vor langer Zeit war seine Kirche auch nicht so.
KAPITEL 1:
DIE NEUE WESTLICHE
STANDARDVERSION
Vieles von dem, was westliches Christentum für den, der auf Distanz zum Glauben steht, so gar nicht unwiderstehlich macht, sind Dinge, denen wir schon immer hätten widerstehen sollen. Obwohl viele von uns hart daran gearbeitet haben, unsere Gemeinden interessanter zu machen, stellt sich heraus, dass immer weniger Menschen daran interessiert sind. Und während die meisten Menschen außerhalb aller Kirchen und Gemeinden weiterhin eine positive Meinung von Jesus haben, halten sie nicht unbedingt besonders viel von seinem Leib, der Kirche.
Das ist ein Problem.
Es wäre so, als würde ich sagen: Ich mag dich, ich möchte nur nicht in deiner Nähe sein.
Der Niedergang des Christentums in vielen Ländern der westlichen Welt, die Popularität der Neuen Atheisten sowie die wachsende Zahl derer, die meinen, besonders betonen zu müssen, was schon seit Generationen galt, aber immer weniger eine Rolle spielt: Die geistliche Ausrichtung des Christentums unserer Zeit ist voller fataler Fehler. Diese Fehler schwächen den christlichen Glauben und machen ihn zu einem Gedankengebäude, das man nicht einmal in der Öffentlichkeit verteidigen kann, weil sich keiner mehr groß für diese Verteidigung interessiert. Die volksnahe Version des kulturellen Christentums, die wir heute haben, ist auf Annahmen gestützt, die eine Strohmann-Version unseres Glaubens erschaffen haben. Leider wird dieser Strohmann in vielen Kirchen und Gemeinden für den tatsächlichen Glauben gehalten.
Diese Version des Christentums ist zu simpel und darum auch leicht in Zweifel zu ziehen. Jahrzehntelang haben Hochschulprofessoren mit Vorurteilen gegen Religion bei christlichen Erstsemester-Studenten dankbare Opfer gefunden. Ich habe mit Dutzenden von Leuten, die den christlichen Glauben verlassen haben, gesprochen, ihnen zugehört und Interviews, Blogs und Bücher von ihnen gelesen. Ich habe bisher noch keine einzige Geschichte von jemandem gehört, der das Christentum aufgegeben hat wegen etwas, das direkt mit dem Christentum zu tun hat – jedenfalls nicht mit seiner Originalversion.
Kürzlich habe ich einen Blog von einer ehemaligen Lobpreisleiterin gelesen, die den Glauben aufgegeben hat, nachdem sie ein Buch gelesen hatte, das Widersprüche in der Bibel „beweist“. Offensichtlich ist sie in dem Glauben aufgewachsen, dass die Grundlage unseres Glaubens ein Buch ohne Widersprüche sei.
Das ist es nicht.
Ein namhafter Neutestamentler hat vor kurzem zugegeben, dass er wegen des Leides in der Welt seinen Glauben verloren habe und nun überzeugter Atheist sei. Aber die Grundlage unseres Glaubens ist nicht eine Welt ohne Leid. Schmerz und Leid widerlegen nicht die Existenz Gottes. Sie widerlegen nur die Existenz eines Gottes, der Schmerz und Leid nicht zulässt.
Was wäre denn, wenn Gott Leid nicht zulassen würde?
Er wäre nicht mehr unser Gott.
Unser Gott hat klar darüber gesprochen.
Oder: Die Menschen hören auf zu glauben, weil sie schlechte Erfahrungen mit religiösen Institutionen gemacht haben.
Das habe ich auch.
Na und?
Die Quantenphysik untergräbt die Ansprüche Jesu nicht. Die Evolution auch nicht. Unbeweisbare alttestamentliche Wunder bringen unser Haus nicht zum Einsturz.
Übrigens, wenn Sie etwas in den vorherigen Abschnitten zusammenzucken ließ, kann ich Ihnen gar nicht sagen, wie glücklich ich bin, dass Sie dieses Buch lesen. Lesen Sie weiter, dann werden Sie eine bessere, robustere Version Ihres Glaubens kennenlernen.
In all meinen Dienstjahren hatte ich nur ein einziges Gespräch mit einem Ungläubigen – einem jüdischen Freund von mir –, der einen Einwand gegen das Christentum hatte, der tatsächlich etwas mit den Ansprüchen Jesu zu tun hatte. „Andy“, sagte er, „ich glaube einfach nicht, dass jemand für die Sünden eines anderen bezahlen kann. Ich glaube, jeder von uns ist für seine eigenen Sünden verantwortlich.“ Ich lächelte und sagte: „Na, dann herzlichen Glückwunsch, du stehst gerade an der Schwelle. Genau darum geht es.“
DER WEG ZUM ZIEL
Der Weg zum Ziel ist nicht kompliziert, auch wenn er für manche kontrovers sein mag. Irgendwie war er das nicht, von Anfang an nicht. Er ist in den Evangelien und in den Paulusbriefen für alle sichtbar versteckt. Wir wissen, dass er funktioniert, weil er bereits funktioniert hat. Vor langer Zeit erregten die Mitglieder eines jüdischen Kults, der sich Der Weg nannte, gegen alle Widerstände die Aufmerksamkeit der heidnischen Welt und konnten letztendlich auch viele mit dem „Weg“ vertraut machen, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Römischen Reiches. Vielleicht müssen wir also bei vielem, was wir heute tun – was ohnehin nicht so gut funktioniert –, mal auf Pause drücken und bei den Männern und Frauen in die Lehre gehen, die die Welt auf den Kopf gestellt haben.
Was wussten die Christen des ersten Jahrhunderts, was wir nicht wissen?
Was machte ihren Glauben so überzeugend, unverwüstlich und schließlich für unzählige Menschen so unwiderstehlich?
Wie konnte ein religiöser Kult, der in einem Winkel des Römischen Reiches entstanden ist und dessen Anführer von seinem eigenen Volk abgelehnt und von den politischen Machthabern als Möchtegern-König gekreuzigt wurde, trotz des überwältigenden Widerstands überleben? Wie kommt es nur, dass gerade diese plötzlich aufgetauchte Religion schließlich von genau dem Reich angenommen wird, das versucht hat, sie auszulöschen?
Ich bin nicht der Erste, der diese Fragen stellt. Bibelwissenschaftler und Historiker denken seit Generationen über diese Geheimnisse nach. Die meisten davon sind zum selben Ergebnis gekommen. Die britische Autorin Karen Armstrong fasst es so zusammen:
„Aber gegen alle Wahrscheinlichkeiten war das Christentum bis zum 3. Jahrhundert zu einer Kraft geworden, mit der man rechnen musste. Wir wissen bis heute nicht wirklich, wie das zustande kam.“ 1
Historisch gesehen hat sie recht. Es ist praktisch unmöglich zu erklären. Anthropologen, Historiker und sogar Tagungen kritischer Archäologen sind zu dem gleichen Schluss gekommen: Im ersten Jahrhundert ist etwas geschehen, das dazu führte, dass sich das Christentum wie eine durch Luft übertragbare Krankheit ausbreitete. Der Glaube dieser Gläubigen des ersten und zweiten Jahrhunderts hatte etwas an sich, das ihn attraktiv, überzeugend und für unzählige Menschen unwiderstehlich machte.
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