Sie gaben der Zeitschrift den Namen Die Thermopylen, ein Zeichen für Widerstandsfähigkeit, und neben dem Kriegsüberblick, den Neuigkeiten aus London, nicht zuletzt über deutsche Verluste, verfassten sie eine Reihe der Artikel selbst. Das waren seine ersten Versuche, etwas zu schreiben, kleine Abrechnungen mit der Naziideologie, wiedergekäute Gedanken von Konrad Steen, in die er allerdings auch eigene Betrachtungen einstreute und dabei entdeckte, welch großen Gefallen er daran fand, auf der Schreibmaschine zu klappern, zuzusehen, wie die Buchstaben tief in die Matrize geschlagen wurden. Auch Maud schrieb für die Thermopylen, wobei Sigurd rasch merkte, dass das Schreiben bei ihr von einer ganz anderen Lust begleitet war als bei ihm, fast von einer Begierde, als fände sie endlich Verwendung für das, was sie immer in ihren Büchern einkringelte, als könne sie diese Einzelteile zu neuen, erbaulichen Erzählungen zusammenfügen. »Du weißt ja, ich werde Journalistin«, sagte sie. Sie schrieb über alles, angefangen von Ronald Fangens Roman Der Mann, der die Gerechtigkeit liebte bis hin zu Ratschlägen über den Mehranbau in Krisenzeiten, sogar hübsche, einfach gestaltete Zeichnungen konnte sie in die Folie ritzen. Mit hochgekrempelten Ärmeln saßen sie in Birgers Bude und arbeiteten, bisweilen belebt von einem Schluck White Horse aus einem nach wie vor gut gefüllten Lager. »Das hätte Platon gefallen!«, rief Birger. »Ja, endlich machen du und dein Platon sich mal ein bisschen die Finger schmutzig«, sagte Karsten.
Die Zeitungspakete erreichten die Verteiler am Boden eines Kinderwagens, mit dem sie von der Observatoriegata aus weitertransportiert wurden, mit einer schlafenden Kaja obenauf. Maud, mitunter auch Sigurd, legten die Pakete an Geheimplätzen ab. Die Leute, die sie nachts holen kamen, wussten nicht, wer sie dort abgelegt hatte.
Sie waren vorsichtig, äußerst vorsichtig. Trotzdem wurden sie erwischt. Das heißt, die Deutschen konnten weder die Redaktion noch ihre Räumlichkeiten ausfindig machen, aber Sigurd wurde geschnappt. Das war im März 1942. Er hatte alle Zeitungen ausgeliefert, hatte nur eine behalten, die er seiner Mutter, Rita, schenken wollte, damit sie stolz auf ihn sein konnte, damit sie sah, dass auch er etwas tat. Dass der Gips ab war. Drei stramme Gestapo-Männer hielten ihn an der Ecke des Schlossparks an, direkt vor seiner Wohnung. Er wurde für seine Waghalsigkeit bestraft, er hätte bedenken sollen, dass ein Mann mit Kinderwagen – mitten am Tag – Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde, und sehr schnell fanden sie das eine Thermopylen-Exemplar unter Kajas Matratze. Es half nichts, dass Kaja zu weinen anfing. Sie begleiteten ihn hinein. Zum Glück war Maud zu Hause und konnte sich um das Kind kümmern, während die Deutschen auf rücksichtsloseste Weise die Wohnung durchsuchten, allerdings ohne das Geringste zu finden. Ein Passant habe ihm die Zeitung zugesteckt, er habe sie wegwerfen wollen, sie sollten etwas Verständnis zeigen, sagte er in fast einwandfreiem Deutsch und erzählte sogar, sein Großvater, ein deutscher Architekt, habe gleich hier um die Ecke in Homansbyen gewohnt.
Nichtsdestotrotz nahmen sie ihn mit zur Victoria Terrasse. Nach Sigurds Einschätzung wussten die Deutschen mehr, als sie zu wissen vorgaben. Hatte sie jemand verpfiffen? Oder nur ihn? Das Verhör verlief zunächst gemäßigt. Dann streng. Die ganze Zeit, während die Schläge auf ihn niederhagelten, dachte er, dass er es verdient habe, und hielt durch. Er wagte nicht, das später laut zu sagen, aber er genoss es beinahe, gefoltert zu werden, es linderte die Scham, das Gefühl, ein Verräter zu sein. Er hielt an seiner Geschichte fest. Tags darauf wurde er nach Grini gebracht.
Für einige war Grini die Hölle. Monate in der Einzelzelle. Schraubstöcke. Nadeln unter die Fingernägel. Auch Sigurd war mitunter Peinigungen ausgesetzt und bekam Fäuste ins Gesicht, dennoch stellte seine Zeit hier einen positiven Wendepunkt dar: »Grini hat mich wieder zu einem Menschen gemacht«, sagte er gegen Kriegsende bei einem ihrer kurzen Besuche zu Maud. Er wusste, sie würde das nicht verstehen, denn wie konnte man etwas Positives verbinden mit einem Ort, der für die meisten der Inbegriff des Grauenerregenden und Diabolischen war?
Von vielen wurde die außergewöhnliche Solidarität hervorgehoben, die sich zwischen den Gefangenen des Konzentrationslagers herausbildete, doch wenn man Sigurd Bohre fragte, waren das Wichtigste die Gespräche. Ja, über längere Phasen hinweg litten sie Hunger, wurden von den launischen, affektierten deutschen Offizieren schikaniert, mussten höllische Razzien, sadistische Nachtappelle, Strafexerzieren im Schlamm über sich ergehen lassen; sie lebten in der ständigen Gefahr, nach Deutschland verfrachtet oder schlicht und einfach hingerichtet zu werden – für Sigurd tat dies alles seiner inneren Freude, der Zufriedenheit, die er im Dialog, in den Diskussionen erfuhr, keinen Abbruch. In den ersten Monaten nach der Invasion war er verärgert gewesen, weil er, obwohl der Unterricht weiterhin stattfand und er hin und wieder den Lesesaal aufgesucht hatte, sein Studium nicht so intensiv betreiben konnte, wie er es wollte. Ihm fehlte die Motivation. Hier in Grini aber trat er in eine Universität ein, die alles in den Schatten stellte, was er sich je von einer Universität erträumt hatte.
Für Sigurd waren diese drei Jahre wie ein Aufenthalt in Platons Akademie. Zwar war es nicht gerade so, als wären sie bei ihren Unterredungen in Säulengängen lustwandelt, aber sie redeten auf dem Weg zur Morgenwäsche, zum Appellplatz, während der verschiedenen Kommandos, drinnen wie draußen, und nicht zuletzt nach Ertönen des Abendsignals. Hier, dachte Sigurd, erfuhr er schließlich, was Birger, sein platonbegeisterter Freund, ihm über den Segen des Dialogs mitzuteilen versucht hatte, nämlich nicht nur jedes Gegenargument zu verfolgen, sondern auch alle Nebenstränge, wohin auch immer sie führen mochten. Grini war für Sigurd ein kontinuierlicher Dialog, in dem alles beleuchtet wurde und die Ideen durch ihr gemeinschaftliches Streben Funken erzeugten. Es war, dachte Sigurd, seine Lebensbildungsreise. »Jeder sollte seine eigene Arche haben«, lautete eines von Mutters Mantras in seiner Kindheit und Jugend, und er hatte nie verstanden, was sie damit gemeint hatte. Erst jetzt verstand er. Grini sollte seine Arche werden, ein Ort, an dem seine wichtigsten Gedanken beheimatet waren.
Seine Unterbringung im Lager fand gerade noch rechtzeitig zu Francis Bulls Vortrag vor den Lehrern statt, am Palmsonntag 1942; die Vorträge wurden in einem Raum des Hauptgebäudes abgehalten, der Die Kirche genannt wurde, und in der darauffolgenden Zeit sollte Sigurd noch viele weitere Vorlesungen unterschiedlichen Inhalts hören, von Kaj Munks Predigten bis hin zum Erlegen von Schlagbären. Sigurd kam zu der Zeit nach Grini, als gerade eine Lagererweiterung vorgenommen wurde, und war somit einer von vielen aus allen Landesteilen und den verschiedensten Bevölkerungsschichten stammenden Häftlingen, die in alten Gardeuniformen und mit diesen ulkigen Schiffchen als Kopfbedeckung jene Baracken errichteten, über welche die Leute später noch reden sollten. Doch obwohl sie ihr eigenes Gefängnis bauten – zuerst stellten sie den Stacheldrahtverhau her und bald darauf den elektrischen Zaun mit seinen Betonpfosten und Wachtürmen –, hatte Sigurd nie eine solche Freiheit, eine solche innere Öffnung erfahren, womit nicht nur seine Beteiligung bei der illegalen Lagerarbeit gemeint ist oder seine einfallsreichen Beiträge zur Umgehung der Verbote und Befehle seitens der Deutschen, ebenso wenig das Schmuggeln von ein wenig extra Gemüse oder Kartoffeln, oder dass sie ihre Zuckerration erhöhten, indem sie Tee aus Himbeerblättern brühten, sondern die Erfahrung, wie lebensnotwendig es war, seine Gedanken und Ansichten mit anderen Menschen zu teilen.
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