Plötzlich noch ein Ruck. Und die Bindung des rechten Skis löste sich.
Selma fiel ins blau-schwarze Loch.
Charlotte Legrand-Hedlund führte an diesem Nachmittag ein äusserst amüsantes und erfreuliches Telefonat. Obwohl das Gespräch nicht lange dauerte, hatte sie danach einen lästigen Pfeifton in ihrem linken Ohr. Der Gesprächspartner sprach sehr laut, eigentlich brüllte er.
Nun betrat Charlotte lächelnd Leas Coiffeursalon, an dessen Wänden immer noch Selmas Bilder hingen. Charlotte ging zu Leas Kasse und schnippelte mit der Schere einen Zettel zurecht, kritzelte «Verkauft» darauf und pinnte das kleine Schild mit einer Nadel unter Selmas grösstes Bild. Es war jenes Gemälde, das die Alp hoch über dem Lauenensee im bläulich-weissen Licht des Mondes zeigte. Das Preisschild mit dem Betrag 8500 Franken liess sie stecken.
«Du hast ein Bild verkauft, Charlotte», stellte Lea erfreut fest.
«Natürlich. Und ich werde noch weitere verkaufen.»
«Schön. Selma wird sich freuen.»
«Ich weiss nicht», sinnierte Charlotte.
«Warum nicht? Wer ist der Käufer?»
«Er will unbekannt bleiben. So wie es sich für einen echten Kunstkenner gehört.» Sie lächelte und verdrehte die Augen.
«Was willst du mir sagen, Charlotte?»
«Ach nichts. Aber weisst du, Selma tut sich schwer mit dem Verkauf ihrer Bilder. Sie hatte schon Mühe mit der Vernissage. Aber bon, hast du Zeit für mich?»
«Natürlich. Für dich immer.»
Lea rief ihre Lehrtochter, die Charlottes Haare wusch. Unterdessen kümmerte sie sich um das Finish einer anderen Kundin. Nach dem Waschen konnte Charlotte den Platz wechseln und setzte sich in Leas Frisierstuhl mit Blick auf den Rhein. Lea kämmte Charlottes Haare und fragte, ob sie die gleiche Bobfrisur wie immer haben möchte. Sie wusste natürlich die Antwort und ergriff die Schere. Charlotte war zwar eine anspruchsvolle Kundin – es ging beim Schnitt um Millimeter –, aber sie war längst nicht so kompliziert wie Selma.
«Ihr hattet nach der Vernissage noch einen vergnüglichen Abend», begann Lea das Gespräch. «Und er dauerte ziemlich lange.»
«Oh ja, es war reizend.» Der weitere Verlauf war wie immer mit Charlotte: Es war ein gepflegter Smalltalk. Bis Charlotte überraschend fragte: «Bei dir und deinem Partner Georg ist alles in Ordnung?»
Lea zuckte und schnitt sich beinahe in den Finger. «Ja, alles bestens. Warum fragst du?»
«Georg schien mir etwas durcheinander zu sein.»
«Durcheinander?»
«Ist vielleicht das falsche Wort.»
Lea hielt mit dem Frisieren inne, stellte sich vor Charlotte ans Fenster und fragte: «Wie lautet denn das richtige Wort?»
«Wie soll ich sagen, er suchte … Nähe.»
Lea liess ihre Schere nervös auf und zu schnappen und sagte: «Du meinst, Georg hat Selma angebaggert?»
«Mais non, so etwas würde ich niemals behaupten.»
Lea ging wieder an die Arbeit. Die beiden Frauen sprachen nicht weiter darüber. Allerdings spürte Charlotte an Leas energischem und etwas rabiatem Arbeitsstil, dass sie erbost war. Vor allem beim Kämmen rupfte es einige Male empfindlich an Charlottes Kopfhaut.
Als Charlotte zahlte, sagte sie: «Es war wundervoll bei dir, wie immer. Und wenn ich etwas Unpassendes gesagt habe, möchte ich mich dafür entschuldigen.»
«Das musst du nicht, Charlotte», erwiderte Lea. «Das Unpassende, wie du es nennst, trifft eher auf Georg zu.»
Kaum hatte Charlotte den Salon verlassen, zückte Lea ihr Handy und schrieb eine WhatsApp an ihren Freund Georg: «Es reicht! Dass du auch noch meine beste Freundin anmachst, ist total daneben.»
Obwohl die nächste Kundin auf dem Frisierstuhl sass, musste Lea kurz nach draussen und durchatmen. Es war kalt, grau und feucht. Sie fror. Tränen schossen in ihre Augen.
Wie hatte sie mit sich gerungen und Georgs Liebesbeteuerungen immer geglaubt. All seine Abwesenheiten, seine Chats auf dem Smartphone – irgendwie hatte Georg für alles eine Erklärung. Und so hatte Lea sich eingeredet, dass alles nur Hirngespinste waren und sich Georg wie immer verhielt, weder distanziert noch sonst irgendwie seltsam. Das Problem liege allein bei ihr. Zu viel Arbeit, zu viele Gedanken, Herbst … Nicht einmal mit Selma hatte sie über ihre Beziehungsprobleme geredet. Nein, sie wollte sie nicht wahrhaben und Georg vertrauen. Aber jetzt?
Sie musste möglichst bald mit Selma reden. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und wählte Selmas Nummer auf dem Handy. Es klingelte. Es kam nur die Mailbox. «Hallo, Selma», sagte Lea, «bitte melde dich, ich muss dringend mit dir reden.»
Selma hatte Glück gehabt. Sie war in der Gletscherspalte ein paar Meter tiefer erneut steckengeblieben. Zuerst war sie nach einem kurzen Fall mit der Schulter auf einen schmalen Eisabsatz geknallt und hatte dabei einen halben Purzelbaum geschlagen, sodass ihr Kopf nun wieder oben war. Daraufhin hatte sich ihr linker Ski in der Spalte verkantet. Dadurch war das Allerschlimmste verhindert worden.
Vorerst. Denn allmählich bog sich der Ski bedrohlich durch. Selma befand sich in einer äusserst unbequemen Schräglage. Ihr Oberkörper war zudem in der Spalte eingeklemmt, was ihr das Atmen erschwerte. Selma war etwas benommen, realisierte ihre Lage aber sofort. Die Schulter schmerzte, doch sonst war sie unverletzt und soweit okay. Allerdings war ihr klar, dass das Eis unter dem Druck und wegen ihrer Körperwärme schmelzen und sie weiter in die Tiefe fallen könnte. Zudem würde sich bei einem nächsten Ruck wohl auch die zweite Bindung öffnen. Oder der Ski könnte brechen. Da sie das Smartphone in ihrem Rucksack klingeln gehört hatte, war also eine Verbindung möglich, und Lasse hatte sicher die Bergretter alarmiert.
Sie hörte den Gletscherbach in der Tiefe. Dort unten war es nur schwarz. Vorsichtig schaute Selma nach oben. Sie sah Licht.
«Selma!» Das war Lasses Stimme. «Selma?»
«Ja?»
«Selma!»
Die Reporterin schrie: «Ja, ich stecke fest!» Ihr Brustkorb tat dabei weh.
«Das ist gut!», schrie Lasse zurück. «Ole und ich werden dich herausholen. Bist du verletzt?»
«Nein!»
«Kannst du dich bewegen?» Das war nun Oles Stimme.
«Ein bisschen.»
«Kommst du an den Rucksack?»
«Nein.»
«Selma, du musst an den Rucksack kommen!»
«Wenn ich mich bewege, dann …»
«Selma, du musst auf der linken Seite des Rucksacks …»
«Es geht nicht!», schrie Selma genervt. Sie bekam immer mehr Mühe mit Atmen.
Nun hörte sie eine Zeit lang nur den Gletscherbach. Selma vermutete, dass Ole und Lasse einen Plan ausheckten, wie sie sie aus diesem kalten Gefängnis befreien konnten.
«Hallo!», rief Selma nach einer Weile.
«Du musst an den Rucksack!»
Selma bewegte sich ganz leicht. Sie rutschte nicht. Mit der rechten Hand konnte sie nach dem Rucksack greifen. «Okay. Ich komme ran. Aber ich kann ihn nicht ausziehen.»
«Gut, Selma, gut! Erreichst du das linke Aussenfach?»
Selma griff wieder über die Schulter nach hinten. Sie spürte das Aussenfach aber nicht. Sie hyperventilierte, zog ihre Handschuhe aus und hängte sie mit den kleinen Ösen an ihre Jacke. Sie hielt den Atem an, streckte den rechten Arm wieder zum Rucksack und drückte ihn gleichzeitig mit der linken Hand weiter nach hinten. Zum Glück wurde der Rucksack durch Selmas Position etwas nach oben gegen ihren Nacken gedrückt. Denn tatsächlich spürte sie jetzt den Reissverschluss der Aussentasche. Selma atmete durch, so gut es ging. «Okay. Ich bin dran.»
«Super! Öffne den Reissverschluss.»
Selma zerrte daran und schaffte es tatsächlich, den Verschluss einige Zentimeter aufzuziehen. «Okay», bestätigte sie.
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