«Gut. Jetzt greif hinein und nimm eine Eisschraube heraus!»
Selma drückte mit voller Kraft mit der linken Hand gegen den Ellbogen des rechten Arms und drückte ihn damit in die Tasche hinein. Nun konnte sie das Seil greifen, das ihr Lasse eingepackt hatte. Sie nahm es vorsichtig heraus. Bei allen Bewegungen achtete sie darauf, sich langsam und nicht ruckartig zu bewegen. Trotzdem kratzte und kroste es an den Eiswänden bedrohlich, der verkantete Ski rutschte einige Millimeter ab. Selma hielt erneut den Atem an. Sie rutschte nicht weiter. Sie nahm das Seil zwischen ihre Zähne und griff nun noch tiefer in die Aussentasche. Tatsächlich spürte sie etwas Metallisches. Das musste diese Schraube sein. Sie zog sie heraus.
«Hast du sie?», schrie Ole von oben in die Gletscherspalte.
Selma konnte nicht antworten, weil sie das Seil im Mund hatte. Aber sie konnte sich vorstellen, was nun zu tun war. Mit der scharf geschliffenen Spitze der Schraube kratzte sie am Eis und bohrte ein kleines Loch. Dann setzte sie die Schraube an und begann vorsichtig zu drehen. Die Schraube fräste sich tatsächlich schnell ins Eis. Nun fasste Selma den hinteren Teil der Schraube, an dem ein Karabiner befestigt war, der sich wie eine Kurbel benutzen liess. Sie drehte, und im Nu verschwand die Schraube im Gletschereis.
Das würde nun ihr Anker sein.
Selma nahm das Seil aus dem Mund, versuchte es sich um den Bauch zu schlagen, was ihr aber nicht gelang. Also fädelte sie das Seil durch die Schulterschlaufe ihres Rucksacks und den Karabiner der Eisschraube. Sie zog alles fest und atmete durch. Ein leichter Schmerz durchzuckte sie. Aber sie war gesichert.
«Selma?», schrie Ole. «Bist du da?»
«Ja. Ich bin da. Und gesichert!»
«Du hast dich mit der Eisschraube gesichert?»
«Ja!»
«Fantastisch! Super!»
Selma hörte, wie die Leute auf dem Gletscher klatschten. Dann hörte sie Stimmen, verstand aber kein Wort. Irgendetwas ging da oben vor. Doch im Moment kümmerte das Selma wenig. Sie versuchte, ruhig zu atmen und sich etwas zu erholen. Sie war gesichert, das war erstmal die Hauptsache. Wie sie je wieder aus dieser Spalte hinauskommen sollte, war ihr zwar ein Rätsel, doch Ole und Lasse würden sich schon etwas einfallen lassen. Ansonsten würden ja bald die Bergretter da sein.
Dann kroste es wieder. Der Ski rutschte. Selma wurde in eine äusserst schmerzhafte Position bugsiert. Ihr Bein mit dem Ski war völlig verdreht. Sie versuchte, ihre Lage zu ändern, doch dabei geriet auch ihr Oberkörper ins Rutschen. Plötzlich klappte die Skibindung auf. Der Ski verschwand in der Tiefe und Selma rutschte: «Hilfe!»
Das Seil fing sie auf. Tatsächlich hing sie nun einzig und allein an dieser Eisschraube.
«Selma?»
«Ich bin abgerutscht. Ich hänge jetzt an diesem Haken und am Rucksack.»
«Am Rucksack?»
«Ja, am Rucksack!»
«Scheisse!»
«Ja, Scheisse, es ging nicht anders.» Die Reporterin konnte nun zwar wieder frei atmen. Aber sie wusste genau, dass es einzig und allein auf die Nähte der Rucksackschlaufe ankam, ob sie überleben würde oder nicht. Wie schwer war sie eigentlich? Wann stand sie das letzte Mal auf einer Waage? Zwischen 55 und 60 Kilo? Sie wusste es nicht genau. Aber sie blieb ruhig. Sie horchte und erwartete, jeden Moment zu hören, wie die Naht langsam riss.
Doch abgesehen vom Gletscherbach hörte sie nichts.
Sie wartete. Und sie begann zu frieren. Sie zog die Handschuhe wieder an. Trotzdem fing sie an zu zittern. Sie würde erfrieren. Es wäre nicht der schlechteste Tod. Frieren, dösen, einschlafen, Ende.
«Selma, wir lassen ein Seil hinunter.»
Endlich begann ihre Rettung. «Okay», schrie sie aus Leibeskräften. Der Gedanke an den Tod war weg.
«Damit sicherst du dich. Verstanden?»
Selma antwortete nicht, während sich das gelbe Seil langsam näherte. Mehrere Karabinerhaken hingen daran und beschwerten das Seil. Sie griff zu und schrie: «Ich habe es!»
Als sie frei in der Spalte hing und nicht mehr eingeklemmt war, konnte sie sich besser bewegen. Sie schlang sich das Seil mehrfach um den Bauch, entdeckte zudem an ihrer Jacke und an ihrem Hosengurt mehrere Schlaufen, führte das Seil hindurch und verknotete das Ganze.
«Bist du so weit?»
«Ja!»
«Hast du dich von der Schraube gelöst?»
«Nein, ich komme nicht heran. Ihr müsst mich zwei Meter hinaufziehen!»
Das gelbe Seil spannte sich. Dann spürte Selma einen Ruck. Tatsächlich wurde sie nun Zentimeter um Zentimeter hinaufgezogen. Bald konnte sie sich von der Eisschraube lösen. Sie glitt mit Händen und Füssen den Eiswänden entlang durch die schmale Spalte.
«Du schaffst es!», schrien Ole und Lasse.
Nun hörte Selma das ratternde Geräusch eines Helikopters. Doch es verstummte bald. Selma blickte nach oben und konnte das Gesicht von Debby erkennen.
«Streck die Hand aus, Selma!», rief Debby, drehte den Kopf ab und schrie: «Los, Männer, noch drei Meter!»
Selma spürte zwei, drei kräftige Rucke, dann konnte sie den Arm ausstrecken und spürte Debbys Hand. Diese ergriff Selma und zog sie energisch aus der Spalte.
Selma lag plötzlich im Schnee. Sie keuchte. Sie weinte.
Sie war gerettet.
Selma hatte einen Bärenhunger. Sie schöpfte sich vom Buffet im Restaurant des Powder-Inn einen grossen Salat, anschliessend verschlang sie einen veganen Burger und einen Berg Pommes. Rund um sie herum wurde geredet. Lasse, Ole und Debby erzählten Marcel und Lea, die extra von Basel gekommen waren, was passiert und wie Selma gerettet worden war. Doch davon bekam Selma nicht viel mit. Sie starrte auf die Bilder an der gegenüberliegenden Wand.
Nach ihrer Rettung aus der Gletscherspalte hatte sich Selma geweigert, mit dem Helikopter ins Spital geflogen zu werden. Obwohl sie in der Spalte eingeklemmt war, tat ihr der Brustkorb nicht mehr weh, auch die Schulter war wieder okay. Der Arzt, der sich vom Helikopter abgeseilt hatte, stellte nur eine leichte Unterkühlung bei ihr fest, wollte sie aber trotzdem in die Klinik einliefern. Selma sträubte sich so vehement dagegen, dass der Arzt schliesslich davon absah. So wurde sie zur Talstation der Titlisbahn geflogen – was Selma zuerst ebenfalls abgelehnt hatte. Nur weil Lasse, Ole und Debby ihr klarmachen konnten, dass sie ohne Skis kaum von diesem Gletscher komme, lenkte Selma ein und liess sich zusammen mit dem Arzt per Seilwinde in den Heli ziehen und ins Tal fliegen.
Im Hotel hatte sie dann kurz mit Marcel telefoniert und ihm von ihrem Abenteuer berichtet. Dass dieser kurzerhand ins Auto sass und mit Lea nach Engelberg fuhr, hatte sie nicht erwartet. Aber es freute sie sehr.
Jetzt war sie satt und müde. Und von den Gemälden an der Wand fasziniert. Von einem Bild ganz besonders. Es zeigte eine abstrakt dargestellte Landschaft mit intensiven Farben, eine goldgelbe Fläche, die Selma als Kornfeld deutete, dahinter eine dunkelgrüne bis schwarze Fläche, die sie als Wald interpretierte, und mitten drin rote Farbtupfer, typisch schwedische Häuser. Das Gemälde zeigte eindeutig eine Landschaft in Südschweden. Und der Künstler kam ihr bekannt vor. Erst vor Kurzem hatte sie viele Bilder von ihm zu Gesicht bekommen. In jener Nacht, als ihre Mutter Charlotte sie in diese Kammer im geheimnisvollen zweiten Stock ihres Hauses «Zem Syydebändel» am Basler Totentanz geführt hatte.
Selma stand auf und betrachtete das Bild von nah. Jetzt erkannte sie auch eine Figur, die vor einem der roten Häuser sass. Es musste eine Frauenfigur sein, ein Mädchen mit langen Haaren und einem angedeuteten Blumenkranz auf dem Kopf. Es gab keinen Zweifel, es musste … Sie richtete den Blick auf die Signatur unten rechts: A. B. I..
Dann wurde ihr plötzlich schwindlig. Sie verlor das Gleichgewicht.
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