«Wir machen das nicht zum ersten Mal», erklärte er Selma. «Ich werde dich zu all diesen Punkten führen, damit du dich ganz aufs Fotografieren und Filmen konzentrieren kannst. Wir machen auch einen Clip, oder?»
«Ja. Deshalb brauche ich einfach Zeit und verschiedene Standorte. Und das Wetter muss mitspielen.»
«In der Nacht sollte es wieder schneien und frischen Powder geben. Am Tag soll dann die Sonne scheinen. Wir werden fantastische Bedingungen haben. Ein bisschen Sorge …» Lasse zögerte.
«Sorge?»
«Na ja, es soll wieder wärmer werden.»
«Darüber wäre ich nicht unglücklich.»
«Wärme ist für einen Gletscher immer schlecht. Und ebenso für Freerider und Bergsteiger, die sich darauf bewegen. Aber wir passen auf. Zudem sind wir alle bestens ausgerüstet. Für dich haben wir auch geeignetes Material.»
«Gut. Aber ich bin keine Freeriderin. Ich fahre nicht über den Gletscher.»
«Öhm», Lasse stockte kurz, «das wird sich leider nicht vermeiden lassen, Selma. Du seist eine ganz hervorragende Skifahrerin, sagt …»
Selma sprang auf und wählte auf ihrem Handy die Nummer von Jonas Haberer. Während die Verbindung aufgebaut wurde und es schliesslich klingelte, murmelte Selma aufgebracht: «Ein paar Porträts machen, dass ich nicht lache, Habilein!»
Jonas Haberer nahm den Anruf nicht entgegen.
Es tröpfelte noch leicht, als Selma und Lasse am nächsten Morgen die Seilbahn Engelberg-Titlis bestiegen. An den Fenstern der Achtergondel perlte das Wasser ab. Als die Kabine die erste Zwischenstation am Trübsee erreichte, deutete nichts darauf hin, dass das Wetter besser werden sollte. Auch bei der zweiten Zwischenstation Stand, wo die beiden in die grosse Titlis-Rotair-Kabine umsteigen mussten, gab es Niederschlag – allerdings nicht Regen, sondern Schnee.
Selma dachte nach, ob sie schon einmal Ende November auf den Skis gestanden war. Nein. Irgendwie war doch fast noch Sommer. In Basel zumindest war es bis kurz vor ihrer Vernissage noch sommerlich warm gewesen. Und jetzt stand sie mitten im Schnee, ausgerüstet wie eine Profifreeriderin. Was ihr ganz und gar nicht behagte.
Lasse hatte darauf bestanden und sie gestern nach dem Besuch auf dem Titlis in einem Sportgeschäft direkt neben dem Powder-Inn ausgestattet: breite und leichte Freerideskis inklusive Spezialbindung und -schuhe, Felle, Helm und ein Rucksack mit Airbag, Lawinenverschütteten-Suchgerät, Lawinenschaufel, Sonde. Da das Fotoshooting auf dem Gletscher stattfinden sollte, hatte Lasse aus dem Fundus der Freerider im Keller des Powder-Inn für Selma Steigeisen, Eispickel, Eisschrauben und ein Seil geholt.
Am Abend hatte sie bei einem Drink und einem Snack in der Hell-Bar einige der Freerider kennengelernt. Unter ihnen Ole und Deborah, die sich Debby nannte. Sie waren die idealen Hauptpersonen für Selmas Reportage: Ole, der coole Schwede, und Debby, die bodenständige Einheimische. Selma sprach lange mit ihnen und machte sich Notizen.
Ole und Debby hatten sich beim Freeriden kennengelernt, verliebt und schliesslich in Engelberg eine gemeinsame Zukunft aufgebaut. Ole, der studierte Sportlehrer aus Malmö, arbeitete als Schneesportlehrer. Im Sommer gab er Kurse als Biketourenleiter. Debby arbeitete im Tearoom und der Confiserie ihrer Eltern und sprach deshalb den einheimischen Dialekt mit den vielen ä und ü.
Irgendwann war Selmas Kopf voll mit neuen Informationen und Eindrücken. Sie hatte sich entschuldigt und war ins Bett gegangen.
Die Bergbahn schwebte steil hinauf. Die Wolken lichteten sich. Selma schaute auf den Gletscher. Hier sollte sie mit den Skis hinunterfahren! Der Reporterin wurde es mulmig. Natürlich, sie war eine gute Skifahrerin, schliesslich hatte sie mit Edith auch eine tolle Lehrerin gehabt. Aber das war lange her. Und Selma war aus der Übung.
Selma schweifte mit ihren Gedanken ab und erinnerte sich an ihre Jugendzeit, an die vielen Winterferien in Gstaad. Aber war sie mit Edith auch einmal auf einem Gletscher? Edith, die so tragisch verunglückt war. Selma dachte auch an Ediths Sohn Res, den sie bei ihrer Reportage auf der Alp hoch über dem Lauenensee wieder getroffen hatte. Und sie sah Martina vor sich, die Käserin, das verrückte Huhn. Wie es ihr wohl ging? Obwohl Martina geglaubt hatte, sie wären beste Freundinnen fürs Leben, war der Kontakt abgebrochen. Hatte Selma sie überhaupt zu ihrer Vernissage eingeladen?
«Auf geht’s!», sagte Lasse und riss Selma aus ihren Gedanken. Die Seilbahn war in die Bergstation eingefahren. Lasse und Selma stiegen aus und buckelten ihre Skis bei heftigem und eisigem Gegenwind zum Einstieg in die Abfahrtsroute.
«Alles klar, Selma?», fragte Lasse. Wegen des Windes musste er schreien. «Du solltest jetzt den Helm aufsetzen.»
Selma hasste den Helm. Ihre Haare und ihre Frisur waren ein äusserst sensibles Thema. Ein Helm war tödlich. Er war der Hauptgrund, weshalb sie in Basel kaum mit dem Fahrrad unterwegs war. Aber jetzt ging es nicht anders. Selma stülpte sich den Helm über den Kopf und setzte die Skibrille auf. Tatsächlich gab es am Himmel erste blaue Flecken.
«Pass jetzt gut auf, Selma», begann Lasse und instruierte sie noch einmal genau über das Gelände, über ihre Ausrüstung, zeigte ihr nochmals den Notgriff des Lawinenairbags, umarmte sie schliesslich und streckte den in einen dicken Handschuh eingepackten Daumen nach oben. Selma erwiderte sein Zeichen und stürzte sich hinter Lasse in den Abgrund.
Die ersten Schwünge im Tiefschnee, im Powder, waren schrecklich. Selma kam sich vor wie eine Anfängerin. Doch Lasse legte eine perfekte Spur hin – wie damals Edith. So gewann Selma schnell an Leichtigkeit, und schon bald tanzte sie durch den Pulverschnee, wie Edith immer gesagt hatte. Selma bekam immer mehr Spass. Was für einen tollen Job sie doch hatte!
Selma und Lasse erreichten den ersten Standort für die Aufnahmen. Sie zogen die Skis aus und montierten die Steigeisen. Die Reporterin kramte die Fotokamera aus ihrem Rucksack hervor, checkte alles durch und brachte sich in Stellung. Mit einer App kontrollierte sie den Lauf der Sonne, falls sie denn zum Vorschein kommen sollte. So konnte sie entscheiden, wie sie die Freerider im Licht- und Schattenspiel am besten einfangen konnte.
Lasse holte sein Funkgerät hervor und rief Ole. Ole meldete sich auf Schwedisch. Sie seien gerade auf dem Titlis angekommen.
«Okay, verstanden», sagte Lasse ebenfalls auf Schwedisch. «Wir sind bereit und können …»
«Wir sind nicht bereit», ging Selma dazwischen. «Wir brauchen Sonne. Im Moment hocken wir in einer Milchsuppe.»
«Wir brauchen Sonne», meldete Lasse durch den Funk an Ole.
«Okay, verstanden, wir warten. Meldet euch, wenn es so weit ist. Wir sind im Restaurant an der Wärme.» Ole lachte kurz, das Funkgerät zischte, und die Verbindung brach ab.
«Wir warten», sagte Lasse, setzte sich neben Selma in den Schnee und angelte eine Thermosflasche aus seinem Rucksack. Er reichte Selma den Becher: «Ist Tee, kein Bier», meinte er und zwinkerte der Reporterin zu.
Der Tee wärmte. Und auch die Nähe zu Lasse wärmte. Irgendwie. Ja, irgendwie fühlte sich Selma mit diesem Kerl, der scheinbar alles so easy nahm, ziemlich sicher. Denn was die Sicherheit betraf, nahm Lasse nichts easy. Überhaupt hatte sie das Gefühl, dass die Freerider zwar verrückte Typen waren, mit einer scheinbaren Leichtigkeit durchs Leben gingen und ihr ganzes Leben dem Powder und dem perfekten Moment unterordneten, aber dabei keineswegs ihr Leben aufs Spiel setzten. Genau solchen Fragen müsste sie in den Interviews auf den Grund gehen.
«Du bist eine fantastische Skifahrerin», sagte Lasse plötzlich. «Jonas hat schon recht gehabt, was er über dich erzählt hat. Auch wenn er vielleicht viel sagt, wenn der Tag lang ist.»
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