Der Kaiser von Kalifornien
Ein karges Bündel auf dem Rücken, mit verbeultem Frack und elegantem Spazierstöckchen, obligater Krawatte und schwarzer Melone, trippelt er durch eine Eiswüste. Wo sind wir hingeraten? Eine Schrifttafel verkündet: »Drei Tage von Irgendwo«. Wir sind im hohen Norden des amerikanischen Kontinents, zur Zeit des Goldrauschs von 1897 am Klondike River in Yukon, wo Städte über Nacht entstehen und jeden Tag neue Horden von Goldschürfern herangespült werden. Bald hat er gegen Schneegestöber, eisige Kälte und quälenden Hunger anzukämpfen und wird in eine lottrige Holzhütte geweht. Dort muss er sich gegen den vor Hunger fast wahnsinnigen, bärengleichen Goldschürfer Big Jim wehren, der ihn für ein Huhn hält und ihn verspeisen will. Er weiß sich zu helfen, kocht seinen rechten Schuh, verspeist mit stoischer Miene und gelegentlichem Schluckauf die Sohle, leckt als vermeintlicher Gourmet die Nägel ab und rollt die Schnürsenkel auf seine Gabel, als wären es Spaghetti – während der verdrießlich dreinschauende Big Jim das üppigere Leder-Oberteil des Schuhs abbekommt. Vorerst glücklos, aber einfallsreich, wird er seinen Weg gehen.
Richtig geraten: Wir sind in Charlie Chaplins hinreißendem Stummfilm Goldrausch von 1925, einem wahren Goldstück der Filmgeschichte. Wer könnte die verblüffende Szene vergessen, in welcher der einsame Goldschürfer im Traum die appetitlichen Brötchen an zwei Gabeln tanzen lässt? Und keine Angst: Es wird alles gut. Charlie wird mit seinem linkischen Charme den Aufschneider im prächtigen Pelzmantel ausstechen und doch noch die Tänzerin Georgia, die ihn zuerst übersehen und dann aus Langeweile versetzt hat, für sich gewinnen. Als Teilhaber von Big Jims riesigem Goldberg wird er gleichsam über Nacht Multimillionär. Auf dem Rückfahrerschiff mit dem bezeichnenden Namen Success wird er von einem Reporter gebeten, für ein Foto noch einmal seine Landstreicherkleider anzuziehen, posiert kokett darin und purzelt dann eine Treppe hinunter genau vor die Füße seiner schönen Georgia. Der Kapitän schimpft den vermeintlichen blinden Passagier heftig aus, die Angebetete will für dessen Fahrkarte bezahlen und ahnt nicht, dass der Tramp inzwischen ein gemachter Mann ist. Das Missverständnis ist rasch aufgeklärt. Der von der Kamera des Reporters eingefangene Kuss beendet rasant jedes schlimme Missgeschick und alles erlittene Unglück.
Nicht jedes Goldschürferdrama ging in Wirklichkeit so heiter aus. Das Unglück kennt verschlungene Wege. Was haben Sägespäne mit Goldnuggets zu tun? Eine Sägemühle in Kalifornien spielte eine gewichtige Rolle in der Geschichte des Goldrauschs. Der Zimmermann James Wilson Marshall sollte für den Schweizer Auswanderer und Großgrundbesitzer Johann August Suter (1803 bis 1880) in dessen rasch aufgeblühter Kolonie mit dem malerischen Namen »Neu-Helvetien« eine Sägemühle am American River bei Coloma errichten. Der Ort lag hundertfünfzig Kilometer nordöstlich eines elenden, damals noch mexikanischen Fischerdorfes namens San Francisco. Am Morgen des 24. Januar 1848 sah er im Sand der Baugrube unter seiner Schaufel etwas aufblitzen, das er vielleicht besser nicht gesehen hätte.
Er stieß auf einen – nicht einmal besonders spektakulären – Goldnugget. Der unglückliche Marshall wird damit völlig unerwartet einen historischen Wirbelsturm auslösen, den großen kalifornischen Gold Rush. Suter, sein Arbeitgeber und schwerreicher Herrscher über »Neu-Helvetien«, hatte bereits erstaunliche Höhen und Tiefen erlebt. Nach dem Konkurs seines Tuchwarenhandels in Burgdorf in der Schweiz wurde er von den bernischen Behörden wegen Betrugs steckbrieflich gesucht und hatte es eilig, vom Horizont zu verschwinden, wobei er seine Frau und seine fünf Kinder als lästiges Gepäck zurückließ. Mit einunddreißig Jahren war er 1834 über Paris und Le Havre, wo er sich auf dem Dampfer mit dem hoffnungsfrohen Namen Espérance einschiffte, nach New York ausgewandert, schlug sich mehr schlecht als recht durch und brach schließlich ins noch unerforschte Kalifornien auf. Nach unermesslichen Strapazen und Kämpfen gegen die indianischen Ureinwohner schaffte er es, sich dort weiträumige Ländereien zur Bewirtschaftung überschreiben zu lassen. »Neu-Helvetien« florierte rasch auf dem fruchtbaren Boden, geschützt von einer soliden Festung, dem »Fort Suter«, und einer privaten Söldnertruppe. Aus dem gesuchten Betrüger und stolzen Kolonisten, der schon bald als »Kaiser von Kalifornien« betitelt wurde und als reichster Mann der Welt galt, wurde allerdings recht schnell ein tragischer Pechvogel.
Statt Sägespänen sollten dem Vorarbeiter und seinem Patron bald die Schreckensnachrichten um die Ohren fliegen. Suter beschwor seine Arbeiter, den unverhofften Fund nur ja nicht auszuplaudern. Leider – und vorhersehbar – ohne Erfolg. Die Nachricht vom Goldfund verbreitete sich wie ein Lauffeuer, »Telegraphen sprühen die goldene Verheißung über Länder und Meere«, wie der Schriftsteller Stefan Zweig es ausdrückte. Glücksucher und Hasardeure aus der ganzen Welt brachen nach Kalifornien auf, um dort vermeintlich zu immensem Reichtum zu gelangen. Schiffseigner warben in den verarmten europäischen Ländern für Reisen zum Goldrausch nach Kalifornien. Kein Weg war zu weit, die Schiffe kamen von überall her. Ganze Siedlerströme, tausend und ein langer Tross von Planwagen machte sich von der Ostküste Amerikas nach Kalifornien auf, ins trügerische Eldorado aller Träume, nach Kalifornien, das noch heute den Ehrentitel Golden State trägt. Die Zeit drängte. Wer zuerst seinen Claim absteckte, sein Schürfrecht beanspruchte, war schneller im erhofften Himmel unermesslichen Wohlstands angekommen, der allerdings mit Blut und Wahnsinn bezahlt werden wollte.
Das Wort rush bedeutet »Hast« und »Hetze«, die lautliche Nähe zum deutschen Wort »Rausch« ist ein nach dem Wortsinn falscher, aber passender Goldnugget. Denn der Rausch, der Abertausende von Menschen ergriff, ruinierte Abertausende von fanatischen, mit Spitzhacke, Schaufel und Goldwaschpfanne bewehrten Goldschürfern, die oft nicht einmal mehr Zeit fanden, ihr eigenes Grab zu schaufeln. Nur die wenigsten wurden reich, der Goldrausch stürzte die meisten in abgrundtiefes Elend.
Scharen von Goldschürfern drangen auf Suters weitläufige Ländereien vor, der sich gegen den Ansturm schlicht nicht wehren konnte. »Neu-Helvetien« versank in Gier und Gewalt, es wurde zu einer Zone, in der es kein Recht und keine Ordnung mehr gab. Die goldgierigen Menschenschwärme ruinierten Suters Imperium in Windeseile, der »Kaiser von Kalifornien« verlor seinen riesigen Grundbesitz und starb verarmt. Ein amerikanisches Drama, geradezu die Verkehrung des amerikanischen Traums vom glänzenden sozialen Aufstieg.
So erging es den meisten kalifornischen Glücksrittern. Was sie erwartete, war Schmutz, Elend, Erschöpfung, Krankheit, Gewalt und Verbrechen – und in Ausnahmefällen ein paar Körnchen des glänzenden Metalls. Die in kürzester Zeit gewachsene Stadt San Francisco brannte mehrmals, die hygienischen Verhältnisse waren katastrophal, Ratten und Ungeziefer vermehrten sich rasch, die Cholera brach aus. Das bei der Goldgewinnung freigesetzte Quecksilber vergiftete zudem Seen und Flüsse. Schon 1854, sechs Jahre nach Marshalls Fund, wurde der Goldabbau industriell betrieben, das Goldfieber der kleinen privaten Goldschürfer flackerte ein letztes Mal auf und erlosch. Wer heute Blue Jeans als Beinkleidung mag, trägt meist ohne es zu wissen ein Relikt des Goldrauschs, denn Levi Strauss aus dem oberfränkischen Buttenheim bei Bamberg erfand die blaue strapazierfähige Hose ausdrücklich für Goldsucher. Ihm wenigstens brachte die Auswanderung ins fiebrige San Francisco Glück. Besser als Gold war – die Hose.
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