»Es ist ein bisschen komisch. Ich merke, dass ich zur Toilette muss, aber es kommt nichts. Obwohl ich genau merke, da ist ein Druck, kann ich nicht. Das geht ein paar Mal so am Tag. Irgendwann ist der Druck dann so groß, dass nichts mehr geht. Ich drücke, erst kommt ein bisschen Blut und dann kann ich pinkeln. Ich werde mir mal Blasentee in der Apotheke kaufen. Der spült gut und das Problem wird sich in den nächsten Tagen erledigen.«
Das Eis war gebrochen. Sein Gesicht hellte sich auf. Eine gewisse Zuversicht war zu erkennen. Ob diese nun mit der gefundenen Problemlösung, dem Blasentee, zusammenhängt, konnte und wollte ich mir nicht selbst beantworten. Heute glaube ich eher, dass es ihm besser ging endlich mal über sein Problem zu sprechen.
»Wie meinst du das, Papa? Glaubst du, dass der Blasentee Wunder bewirken kann? Ich denke, du solltest zu einem Urologen gehen und mal nachsehen lassen. Der Heinz hatte diese Probleme auch. Schätzungsweise hängt es mit deiner Prostata zusammen. Ich weiß zwar nicht genau was oder wie da etwas gemacht wird. Doch denke ich, dass ist kein Tabuthema mehr und es ist bei weitem nicht mehr so schlimm, wie es einmal war.«
»Ich kenne keinen Urologen. Und in ein Krankenhaus gehe ich auch nicht.«
»Unwissenheit schützt bestimmt vor vielem, doch hier geht es um deine Gesundheit. Lasse dir mal einen Termin bei deiner Hausärztin geben. Mit ihr werden wir über alles sprechen. Sie weiß, wen man ansprechen kann. Wegen des Krankenhauses mache dir mal keine Gedanken. Zu Hause wird man einen eventuellen Eingriff nicht vornehmen können. Für viele Operationen braucht man heute nur noch wenige Tage. Hinterher wirst du froh sein, dass du dich richtig entschieden hast. Du bist nicht der einzige Mann in deinem Alter mit diesem Problem.«
Zwei Tage später, 8.00 Uhr, der Termin bei Christiane B. stand. Wir saßen im Wartezimmer und schauten Zeitungen an. Die Aufregung war meinem Vater anzumerken. Tausende Fragen gingen ihm durch den Kopf. Vor dem Gespräch, waren diese wohl nicht zu beantworten. Um sich etwas zu lösen, begann mein Vater mit einem Gespräch.
»Ich denke nicht, dass sie mir helfen kann. Wir hätten doch mal diesen Professor D. anrufen sollen. Wie mir der Nachbar erzählt hat, ist er sehr gut auf diesem Gebiet.«
»Wie, du hast mit jemandem nahezu Fremden über dieses Thema gesprochen? Warum hast du es dir dann so schwer gemacht mit mir oder der Mutter zu reden?«
»Ich habe mit niemandem darüber gesprochen. Er hatte mir von seiner Operation erzählt. Immerhin kennen wir uns schon ewig und hatten uns eine längere Zeit nicht gesehen. Werner hatte mir von sich aus darüber erzählt.«
»Warum auch nicht. Wie gesagt, diese Krankheit betrifft sehr viele Männer in deinem Alter, manche sogar früher als dich jetzt. Die Schulmedizin basiert auf jahrelanger Praxis. Klar, die Medizin in ihrem vollen Umfang gehört nicht in unser Wissen, doch es gibt genug Ärzte, denen du vertrauen kannst. Vertrauen ist die Grundlage zu allem. Ein Problem welches du selbst nicht lösen kannst, gibt es immer wieder. Bist du am Ende deines Wissens angelangt, musst du fachmännischen Rat einholen. Bezüglich deines momentanen Problems brauchst du einen Arzt. Also, die richtige Schlussfolgerung ist sich an einen zu wenden. Du hast dich richtig entschieden, als du den Termin hierfür vereinbart hast. Warte mal, nach dem Gespräch weißt du mehr.«
Mein Vater schaute mich an, als wären meine Worte in einer fremdländischen Sprache aus meinem Mund gekommen. Er blickte mir direkt in die Augen.
»Nicht nur ich, wir wissen dann mehr.«
Seine Worte klangen sehr bestimmt. In dieser Art habe ich meinen Vater bisher sehr selten vernommen. Wie habe ich ihn bisher überhaupt wahrgenommen. Wer war er? Sonderbar, zum ersten Mal dachte ich darüber nach.
»Kommen Sie dann bitte.«
Die Sprechstundenhilfe nickte uns zu. Wir standen auf und folgten ihr. Leicht war meinem Vater dieser Moment nicht gefallen.
»Nachdem Sie mir alles geschildert haben, werde ich Sie zu einem Urologen überweisen. Machen Sie sich nicht zu viele Gedanken, er wird Ihnen helfen. Nach meinem Befund handelt es sich bei Ihnen um eine klare Verengung der Prostata. Die entsprechende Operation wird in einer Klinik vorgenommen werden. Sollten keine Probleme auftreten, davon gehe ich bei Ihnen aus, ist hinterher alles wieder so, wie Sie es gewohnt sind.«
Eine klare Aussage, doch wollte ich mehr über dieses Thema wissen. Bisher hatte ich damit noch nichts zu tun. Vor einigen Jahren wurde mein Onkel ebenfalls an der Prostata operiert. Besonderheiten waren mir seinerzeit nicht aufgefallen. Wobei ich mit ihm auch nie darüber gesprochen hatte. Ich wünschte mir, ich hätte es getan, dann würde ich jetzt mehr von dem verstehen, was gesagt wurde. Ich wollte mehr wissen.
»Wodurch tritt diese Krankheit auf?«
»Es ist keine Krankheit. Im Laufe der Jahre kann sich die Prostata durch gutartiges Geschwulstwachstum vergrößern. Diese behindern den Harnabfluss. Damit treten die Probleme beim Wasserlassen auf. Begleitet wird dies durch Schmerzen. Klar, je enger die Harnröhre ist umso mehr Kraft wird seitens des Körpers verlangt um den Urin zu transportieren.«
Mein Vater schaute uns zu. Ihn schien die Art und Weise unseres Gespräches mehr zu interessieren als dessen Inhalt. Ich unterbrach für einen Moment und drehte mich zu ihm. Er holte Luft und sah auf den Schreibtisch seiner Ärztin.
»Für nächste Woche brauche ich einen Termin zur Blutabnahme. Den werde ich mir dann draußen noch geben lassen. Mal sehen, was meine Fettwerte machen. Obwohl ich keine Probleme habe. In letzter Zeit war sowieso alles in Ordnung. Ich esse und trinke alles.«
Christiane B. und ich schauten uns an. Ich sah, ihr ging es wie mir. Wir wussten beide nicht, wie wir seine Worte verstehen sollten. Die Ärztin nickte, sah meinen Vater an und fuhr fort.
»Ihre Blutwerte? Ja, können wir nächste Woche machen. Lassen Sie sich einen Termin geben. Wenn wir uns nächste Woche sehen, dann können Sie mir vielleicht sagen, welche Fragen noch offen sind. Ich denke, dass Sie die eine oder andere schon noch finden werden. Nur keine Hemmungen, Fragen sind dafür da, dass sie gestellt werden.«
Wir standen auf, verabschiedeten uns und verließen das Zimmer. Mein Vater ging vor, direkt zur Anmeldung. Ich folgte ihm durch die Tür.
»Rainer.«
Christiane B. rief mich noch einmal zu sich.
»Lasse sich alles erst einmal ein bisschen setzen. Er scheint damit überfordert zu sein. Es ist für keinen Mann einfach. Darüber zu reden und dann mit einer Frau ist meist noch schwieriger. Warte, bis er etwas sagt. Doch warte nicht zu lange, er hat Schmerzen. Wenn du noch Fragen hast, dann rufe mich an oder komme vorbei.«
Sie reichte mir die Hand, lächelte und nickte.
»Danke. Unser Gespräch war sehr informativ. Ich weiß noch nicht, welche Fragen auftreten können. Ich habe mich mit diesem Problem bisher nicht auseinander setzen müssen. Ein Onkel von mir hatte vor Jahren diese Operation. Mal sehen, vielleicht werde ich ihn mal ansprechen, wie es bei ihm war.«
»Gute Idee. Vielleicht kann auch dein Vater mal mit ihm sprechen. Also, so ganz von Mann zu Mann. Ist oft einfacher. Viel Erfolg.«
»Danke.«
Auch zu Hause wollte mein Vater nicht gleich auf das Thema eingehen. Er zog sich aus und ging in sein Zimmer. Fernsehen war angesagt. Meine Mutter schaute mit einem fragenden Blick. Ich fragte sie, ob er denn gar nichts zu ihr gesagt hatte.
»Nein, als er kam, sagte er es ist alles in Ordnung und er muss zu einem Urologen. Nicht mehr und nicht weniger.«
»Irgendwie hat er ein großes Problem darüber zu reden. Auch bei Christiane hat er mitten im Gespräch damit angefangen, dass er einen neuen Termin zur Blutabnahme braucht. Er sollte die Zeit mal nutzen um sich mit dem Thema auseinander zu setzen. Je mehr er darüber weiß, umso weniger muss er sich vor den jeweiligen Dingen ängstigen. Komisch, mit uns Kindern wurde früher nie so ein Geschiss gemacht. Wir mussten uns allen Dingen stellen und sie angehen. Und heute? Ihr verschließt immer gerne die Augen und Ohren. Alles was unangenehm ist wird einfach ausgelassen. Wir tun mal so, als wäre dies nie gewesen. Tolle Devise, nur dieses Mal habt ihr mit der Natur zu tun. Ihr ist es egal, ob oder wann ihr was wollt und wann nicht.«
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