Die drei Königsberger Spaziergänger waren von genau diesem Aspekt besonders angezogen. Sie entwickelten eine gemeinsame Leidenschaft für die abstraktesten Teile ihrer Wissenschaft, neben der Zahlentheorie begeisterten sie sich auch noch für die Algebra (welche die Eigenschaften von Rechenoperationen untersucht). Sie waren fasziniert von den Möglichkeiten, die sich durch das Operieren in einer abstrakten Allgemeinheit ergaben, insbesondere von der Verbindung der verschiedenen Zweige der Mathematik durch die kreative Anwendung von Methoden in Bereichen, für die sie ursprünglich nicht bestimmt waren.
Methoden haben in der Mathematik etwa denselben Stellenwert wie die Fragen in der Philosophie: Sie sind das Ursprüngliche. Neue Methoden werden zum Zentrum neuer Zweige der Wissenschaft und treiben den Fortschritt voran. Sie geben den Begriffen erst ihren natürlichen Sinn und Ort, sie sind die eigentliche Idee. In einer immer abstrakter werdenden Gedankenkonstruktion werden die Methoden zum Wesentlichen, überwölben alle Anwendungsaspekte, die einst am Beginn der Überlegung gestanden haben mochten. Sie sind in der Mathematik das eigentliche Wagnis, wichtiger als die Sätze und Ergebnisse, die von ihnen nur abhängen. Neue Methoden sind aber anfangs immer umstritten, und der Weg vom kühnen »Ich darf das!« bis zur allgemeinen Akzeptanz und Anerkennung ist oft lang und steinig. An den alten Gewissheiten und den dazugehörigen Methoden zu rütteln ist jedenfalls ein Geschäft für junge Leute.
Die aufregendste methodische Neuerung zur Zeit der Königsberger Spaziergänge stammte zweifellos von Georg Cantor (1845–1918), dessen Name an vielen Ecken dieser Geschichte auftaucht, weil sein Thema die Unendlichkeit ist. Er bereicherte die Mathematik um einen ganz neuartigen Umgang mit dem Grenzenlosen und hinterließ dabei der Mengenlehre einen Sack voll Flöhe. Cantor war ein manisch-depressiver Professor aus Halle, dessen zweites Lebensthema (neben der Erforschung des Unendlichen) die Aufdeckung von Shakespeares wahrer Identität war. Beides waren Aufgaben, die leicht in den Wahnsinn führen konnten. Cantor kam mit Shakespeare nicht entscheidend weiter, aber für den Umgang mit dem Unendlichen schuf er Definitionen und Beweistechniken und errichtete damit ein Werk von bleibendem Einfluss und unbezweifelbarer Größe. Das Unendliche mit unseren irdischen Gehirnen zu umfassen, war (neben der Überwindung der »klassischen« Euklidischen Geometrie) das wohl ambitionierteste Projekt in der Mathematik des 19. Jahrhunderts, und es überrascht nicht, dass die daraus entstandene neue Mengenlehre in einen großen Streit über die Grundlagen der Mathematik insgesamt mündete.
Cantor führte verschiedene Grade der Unendlichkeit ein, eine Idee, die seine Lehrer an der Berliner Universität (insbesondere Leopold Kronecker (1823–1891)) erschauern ließ. Die Unendlichkeit der natürlichen Zahlen 1, 2, 3, … ist eine Selbstverständlichkeit, denn es lässt sich keine größte natürliche Zahl benennen. Cantor zeigte nun, dass etwa die rationalen Zahlen (die sich als Brüche ausdrücken lassen, z. B. ½, ⅔, ¾,
,
) so aufgeschrieben werden können, dass sich jede von ihnen einer natürlichen Zahl zuordnen lässt. Die Unendlichkeit der natürlichen Zahlen entspricht damit der Unendlichkeit der rationalen Zahlen, obwohl es von den letzteren offensichtlich mehr gibt. Dies ist ein Resultat von Cantors Aufschreibtechnik, an der es nichts zu deuteln gibt. Die rationalen Zahlen sind also gleichermaßen abzählbar unendlich wie die natürlichen. Cantor zeigte nun, dass es sich mit den reellen Zahlen (die, grob gesprochen, neben den rationalen Zahlen auch solche enthalten, die sich nicht als Bruch schreiben lassen, also etwa die Kreiszahl – also alles, was sich irgendwie als Kommazahl ausdrücken lässt) anders verhält. Ihre Unendlichkeit hat eine andere Kragenweite – oder wie es richtig heißt: Sie ist von anderer Mächtigkeit (ihre Elemente lassen sich nicht in eine eineindeutige Beziehung bringen). 27
Es lohnt sich an dieser Stelle den ebenso einfachen wie genialen Gedankengang Cantors nachzuskizzieren. Der Beweis beruht auf dem so genannten Diagonalverfahren . Dazu nimmt man an, die Unendlichkeit der reellen Zahlen sei von gleicher Mächtigkeit wie die der natürlichen (oder rationalen) Zahlen. Wenn das so ist, dann müssen sich die reellen Zahlen in einer durchnummerierbaren Liste aufschreiben lassen. Beispielsweise müssten sich alle reellen Zahlen zwischen 0 und 1 in willkürlicher Reihenfolge etwa so aufschreiben lassen:
0, 50000000…
0,3 3333333…
0,25 000000…
0,666 66666…
0,2000 0000…
0,16666 666…
0,404040 00…
0,7500000 0…
Man betrachte nun die fett markierte Diagonalzahl: 0,53060600… und ändere sie an jeder Stelle, etwa indem man 1 hinzuzählt. Dann erhält man eine Zahl 0,64171711…, die gewiss nicht in dieser Liste ist, denn sie unterscheidet sich von jeder in der Liste enthaltenen Zahl an mindestens einer Stelle. Die Annahme, die reellen Zahlen ließen sich in einer abzählbaren Liste aufschreiben, führt zu einem Widerspruch, denn aus dieser Liste lässt sich eine Zahl konstruieren, die nicht in ihr enthalten ist. Also können sich die reellen Zahlen nicht in eine Liste bringen und abzählen lassen. Die reellen Zahlen haben damit eine andere Mächtigkeit als die natürlichen Zahlen. Sie sind überabzählbar unendlich.
Der Spaß fängt an, ernsthaft kompliziert zu werden, wenn man sich überlegt, ob es eine Menge gibt, deren Mächtigkeit zwischen der abzählbaren und der überabzählbaren liegt. Cantor vermutete, dass dies nicht der Fall war, aber er konnte es nicht beweisen, und so reichte er diese Vermutung als die »Kontinuumshypothese« an die kommenden Generationen weiter. Eine andere, ebenso schräge Frage war, wie die Menge aller unendlichen Mengen aussehen mag, in welcher also Mengen von allen Arten von Unendlichkeit vereint sind? Oder was war die Mächtigkeit einer Menge, die aus den Teilmengen einer unendlichen Menge bestand?
Das Establishment in Berlin, repräsentiert durch Kronecker, hielt allein schon den Gedanken, im Unendlichen nach Strukturen zu suchen, mit denen sich am Ende vielleicht sogar rechnen ließ, für surreal. 28Wohin sollte ein so lockerer Umgang mit dem Unendlichen führen? Hatte man nicht eben viel Mühe darauf verwandt, die Mathematik in den endlichen Bereich zu zwingen und das unordentliche Erbe der Differenzialrechnung aufzuräumen?
Der Umgang mit dem Unendlichen war immer unheimlich geblieben, auch wenn die Methoden und Definitionen immer besser und genauer wurden. Das Unendliche zu denken bedeutet, etwas in den Kopf zu bekommen, wofür es kein Bild, keine Vorstellung gibt. Das Unendliche existiert nicht in der Natur. Im Kleinsten besteht sie aus Quanten und auch im Größten lässt sich nicht ohne weiteres behaupten, unser Universum sei in Zeit und Raum unendlich ausgedehnt. Es kommt in unserer Erfahrung nicht vor, es ist nicht real, sondern reine Abstraktion. Die Endlosigkeit dennoch erfassen und durchdenken zu wollen bedeutet immer, im wörtlichen Sinne, an die Grenzen des Verstandes zu gehen. Wer es sich trotz allem zutraut, findet sich sehr schnell sehr allein.
Für seinen Mut, über die Grenzen des Endlichen zu gehen (und das Establishment zu verachten), bewunderte die mathematische Jugend und speziell das Trio vom Königsberger Schlossteich Cantor grenzenlos. Sie »verehrte in Cantor den originellsten zeitgenössischen Mathematiker zu einer Zeit, als in damals maßgebenden mathematischen Kreisen der Name Cantor geradezu verpönt war und man in Cantors transfiniten Zahlen lediglich schädliche Hirngespinste erblickte.« 29Cantor war aber nicht zum Helden geboren und für eine solche Auseinandersetzung mit Kronecker zu sensibel (wie es vielleicht bei einem Kopf, der das Unendliche umfassen konnte, nicht verwunderlich war) und endete, halb verhungert, 1918 in einem Sanatorium.
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