Der Streit wurde in aller Öffentlichkeit ausgetragen, mit einer Reihe von Notizen in den Mathematischen Annalen . Am Ende setzte Hilbert sich durch, aber die Auseinandersetzung hinterließ Narben. Von nun an spürte er den Geist Kroneckers bei jeder mathematischen Arbeit über seine Schulter schauen, und insbesondere in seinen späteren Arbeiten zur Logik versuchte er stets den Bezug zur endlichen Konstruktion herzustellen. Aber immerhin war er nun in Mathematikerkreisen berühmt, sogar noch mehr als seine genialischen Jugendfreunde. Nichts fördert die Bekanntheit mehr als ein öffentlich ausgetragener Streit.
Als Hurwitz 1892 eine Stelle als ordentlicher Professor in Zürich antrat, wurde es in Königsberg dennoch erst einmal einsam um Hilbert. Ihm blieben zwar einige begabte Studenten (u. a. Arnold Sommerfeld), aber unter den Professoren fehlten nun die Schwergewichte, mit denen er seine Ambitionen verwirklichen konnte. In eben diese Zeit mangelnder mathematischer Ansprache fiel sein Entschluss, Käthe Jerosch zu heiraten, um deren Gunst er sich schon eine Weile bemüht hatte. Er hatte zwar noch keine gute Stellung, aber hervorragende Aussichten, und es war nur eine Frage der Zeit, bis er an eine bedeutende Universität berufen würde. Ein gutes Jahr später, 1893, kam ein Kind zur Welt, Franz, drei Jahre später folgte der Ruf als ordentlicher Professor nach Göttingen. Dort hatten die Schwergewichte Gauss, Dirichlet und Riemann gelehrt, die der Stadt und ihrer Universität auf dem Feld der Mathematik im 19. Jahrhundert eine in alle Welt ausstrahlende Aura verliehen hatten. In Göttingen bauten sich die Hilberts bald ein schönes Haus und das Leben war nun wohlgeordnet wie die natürlichen Zahlen. Hilbert hatte eine Frau, ein Kind, ein Haus, für die Vollendung des Idylls fehlte nur noch ein Hund. Mitte 30 war er jetzt, im kreativsten Mathematiker-Alter, er hatte Karriere gemacht und war auf dem besten Wege, ein bedeutender Mann zu werden.
Den Ruf nach Göttingen hatte Hilbert 1895 auf Betreiben von Felix Klein erhalten, der dort seit 1886 Ordinarius für reine Mathematik war. Klein war ein hervorragender, aber vielleicht allzu selbstbewusster Mathematiker, der bereits im Alter von 23 Jahren als Professor berufen worden war und in seiner Antrittsrede die Zunft mit seinem Erlanger Programm verblüfft hatte. Das war nicht nur eine starke Geste, sondern auch tiefgreifende Mathematik. Klein war mit einer Enkelin des Philosophen Hegel verheiratet, was in ihm die Überzeugung befestigt haben mochte, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Jedenfalls war er ein erstklassiger Mathematiker, der jeden Winkel seiner Wissenschaft durchforschen und zu einem einheitlichen Gebäude zusammenfügen wollte.
Der Fanfarenstoß, mit dem Klein in Erlangen den Beginn seiner Karriere eingeleitet hatte, sollte die Welt auf den Zusammenhang zwischen Geometrie und Gruppentheorie aufmerksam machen, ein damals noch neues Thema. Gruppen haben anschaulich viel mit Symmetrie zu tun. Entdeckt wurden sie von dem bereits erwähnten Évariste Galois, als dieser sich an Permutationen von Lösungen algebraischer Gleichungen abarbeitete. Permutationen sind in gewisser Weise symmetrisch, weil man dabei in einer gegebenen Ordnung ein Element so lange an den Ort des anderen schickt, bis alle wieder einen Platz haben im System (wie beispielsweise beim Mischen von Spielkarten oder bei Anagrammen). Portraits von Dürer oder Leonardo da Vinci sind in ihrer Anlage meist symmetrisch, in Form von Spiegelungen der einen Gesichtshälfte auf die andere (Achsensymmetrie). Spielkarten sind symmetrisch in dem Sinn, dass sie sich um 180° drehen lassen und wieder dasselbe Bild ergeben (Rotationssymmetrie). Ebenso verhält es sich mit einem fünfzackigen Stern, einem Drudenfuß, den man um ein Fünftel oder zwei Fünftel oder gerne auch fünf Fünftel dreht und der anschließend wieder genauso aussieht wie vorher. Solcherart symmetrische Transformationen bilden eine Gruppe. 38
Diese Gruppen also brachte Klein in seinem jugendlichen Überschwang mit der Geometrie zusammen, indem er behauptete, dass eine Geometrie von nichts anderem bestimmt werde als von ihrer dazugehörigen Transformationsgruppe. Auf eine solche Idee konnte er nur kommen, weil im 19. Jahrhundert die Auffassung ins Wanken geriet, was eine Geometrie im Kern eigentlich war. 2000 Jahre lang hatte als ausgemacht gegolten, dass Euklids Darstellung der Geometrie, wie sie bis heute in den Schulen unterrichtet wird, die einzig richtige sei. Falsch!, so stellte es sich in den Jahren nach der Französischen Revolution heraus. Es gab, bei genauer Betrachtung des Verhaltens von Parallelen im Unendlichen, auch noch andere Geometrien, in welchen sich Maße, Winkel und Verhältnisse ganz anders verhielten, als es die Schulbücher wahrhaben wollten. 39
Der Schlussstein von Kleins Programm sollte die Theorie der automorphen Funktionen sein, welche er zunächst in der ruhigen Selbstgewissheit seiner eigenen Genialität verfolgte – bis er plötzlich realisieren musste, dass der damals noch völlig unbekannte, abseits in der französischen Provinz arbeitende Henri Poincaré, noch jünger, noch genialer, dasselbe Ziel wie er verfolgte. Zwischen den beiden entstand eine Korrespondenz, die eigentlich ein Wettlauf um die Krone ihrer Wissenschaft war, bei dem Klein sich nur knapp zu einem Unentschieden retten konnte. Bei diesem Wettstreit hatte er viel Energie gelassen und die Erkenntnis gewonnen, dass er in Poincaré seinen Meister gefunden hatte. Das führte zu einem Zusammenbruch, wie ihn sehr viele Mathematiker irgendwann in ihrem Leben einmal haben. Äußerlich erholte Klein sich zwar, aber er fand nie wieder zur alten Höhe seiner Schaffenskraft zurück. Nach seiner Krise blieb er ein hervorragender Mathematiker, aber angesichts seiner nunmehr selbst erkannten Grenzen versuchte er seine Ziele künftig in Zusammenarbeit mit anderen zu erreichen. So wurde er zu einem Wissenschaftsorganisator, also einem Mann, der viel Zeit damit zubringt, bei Ministern und privaten Geldgebern um zusätzliche Mittel zu bitten, nach geeignetem Personal zur Verstärkung Ausschau zu halten und auf Fakultätssitzungen die feindlichen Kollegen gegeneinander auszuspielen. Er brachte nicht nur den fachlichen Überblick, sondern auch die charakterliche Kompetenz mit, zur grauen Eminenz seines Faches in Deutschland zu werden, und die Universität Göttingen war seine Burg. Klein wurde 1897 erstmals Präsident der Deutschen Mathematiker-Vereinigung , vertrat die Universität ab 1908 im preußischen Herrenhaus, sein Ruhm verbreitete sich aber auch international. In den USA wurde er 1904 zum Mitglied der American Academy of Arts and Sciences gewählt.
Felix Klein war ein schwieriger Charakter mit ausgeprägtem Ehrgeiz und Machtinstinkt, dem man aber zugutehalten musste, dass er eine Schwäche für andere schwierige Charaktere hatte und eine hohe Streitkultur pflegte. Max Born, Doktorand bei Klein und später Mitschöpfer der Quantenmechanik, nannte seinen Lehrer ganz ohne Augenzwinkern den »Großen Felix«. 40Seine Neugierde auf Menschen und seine Offenheit für frische Bekanntschaften war für das Fach so ungewöhnlich groß, dass man ihn bei den strengen, pünktlichen und nicht mehr jungen Kollegen in Berlin für unseriös hielt. Ein »Faiseur« sei er, hieß es in den Protokollen zur Frage der Berufung Kleins in die Hauptstadt, ein »Blender«, der zwar gut vortrug (obwohl »im Feuilletonstil«), aber doch nur »naschte« und seine »Versprechungen nicht halte«, ohne rechte Substanz, ein Mann mit dem ein »Zusammenarbeiten hier unmöglich sei«. 41
Der Tradition seit Gauss entsprach es, die Mathematik mit den mathematischen Wissenschaften (ihren praktischen Anwendungsgebieten) zu verschränken, und Klein hatte ein Auge darauf, dass in Göttingen auch bei den Physikern und Astronomen das passende Personal gefunden wurde. So entstand eine ganze Tafelrunde von mathematischen Köpfen der verschiedensten Orientierung, die rasch auf ganz Deutschland ausstrahlte und dem verknöcherten Berlin die Talente abspenstig machte. Dort war um 1890 zwar die größte Ansammlung an großen Namen zu finden (Kronecker, Kummer und Weierstraß), aber es handelte sich dabei um alt gewordene Männer, die ihre schwindende Energie in die Veranstaltung ihrer Werkausgaben investierten. Göttingen hatte dagegen, obwohl die Universität relativ jung war, eine große mathematische Tradition und, wichtiger, die Köpfe der Zukunft vorzuweisen.
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