Die ersten Baracken waren für die Verletzten bestimmt, zumindest für die Schwerverletzten, denn es gab nicht genug Platz für alle. Dann wurde den Arbeitern die Errichtung des Stacheldrahtzauns aufgetragen, und der Stapel Holzplanken blieb wochenlang auf dem Boden liegen. In der Zwischenzeit strömten immer mehr Flüchtlinge in das Lager. Vor allem nach der Einnahme von Barcelona am 26. Januar. Sobald die Grenze von der französischen Regierung in der Nacht vom 27. auf den 28. Januar geöffnet worden war bis zur Schließung im Februar stieg die Zahl der Menschen im Lager von einigen Hundert auf ungefähr fünfzigtausend. In den kommenden Monaten sollte sie auf sechzigtausend ansteigen. Und das war nichts im Vergleich zu den anderthalb Millionen Spaniern, die durch den Sturz der Republik und aus Angst vor den Nationalisten auf die Straßen getrieben worden waren, und den fünfhunderttausend, die in Frankreich, hauptsächlich in den Ostpyrenäen, aufgenommen wurden.
Fünfzigtausend, das war eine große Stadt. Das Lager von Argelès war in der Tat eine große Stadt, jedoch eine Stadt ohne Geschäfte, ohne Kirche, ohne Schule, ohne Kino. Nur eine kleine Krankenstation und Hunderte von Holzbaracken, die ein Windstoß hätte umwerfen können.
Wenn unsere Kräfte es erlaubten, wohnten wir am Eingang des Lagers der Ankunft der Neuankömmlinge bei. Die Gendarmen begannen damit, die Familien zu trennen: die Männer in ein Lager, die Frauen und Kinder in ein anderes, manchmal in der Nähe, manchmal weit entfernt, und jedes Mal waren es herzzerreißende Szenen, Schreie, die einem das Blut in den Adern gefrieren ließen. Vor allem die Schreie der Frauen. Sie hatten ihr Heim verloren, ihre Kinder oder Eltern sterben sehen, sie waren am Ende ihrer Kräfte, krank, und nun nahm man ihnen auch noch ihre Söhne, ihre Ehemänner, ihre Brüder. Die Frauen waren verzweifelt und zeigten es auch, doch habe ich auch Männer im Augenblick der Trennung schwanken oder gar plötzlich zusammenbrechen sehen.
Nach der Trennungsprozedur verteilte ein Gendarm Decken, die er aus einem Laster zog, ein anderer notierte Namen und Alter in ein Heft. Jeder neue Flüchtling begab sich in den Bereich, den man ihm zuwies, legte sein weniges Gepäck ab, buddelte ein Loch in den Sand und kam dann zum Zaun zurück, um auf der anderen Seite einen Ehemann oder eine Ehefrau, einen Bruder oder Cousin ausfindig zu machen. Auf diese Weise war der Stacheldrahtzaun von Menschenreihen bevölkert, die von einem Lager zum anderen kommunizierten, mit wenigen Worten, die der Wind davontrug. Häufig wehte der Mistral, manchmal eine ganze Woche lang, wirbelte den Sand hoch, sodass die Augen brannten. In stürmischen Nächten donnerten die Wellen, der Wind pfiff und es herrschte eine feuchte Kälte, die einem bis in die Knochen drang.
Zweimal am Tag fuhr ein Militärlaster durch das Lager, hielt an jeder Baracke an, um einen Kochtopf abzustellen, meistens mit Topinambur, manchmal mit Kartoffeln. Ein anderer Laster folgte, ein Wächter stand im Gefährt und warf wahllos Brot herab, ohne hinzuschauen. Man musste sehr großen Hunger haben, um dieses Brot und diese Kartoffeln zu essen, die uns Bauchschmerzen bereiteten, und wirklich sehr durstig sein, um – wenn auch abgekocht – dieses Wasser zu trinken, das wir mit Konservendosen an den berüchtigten Handpumpen schöpften. Natürlich stand kein Fleisch auf dem Speiseplan, obwohl es die von den Flüchtlingen mitgebrachten Tiere gab. Sie weideten in den Gärten oder starben vor Hunger, wenn sie nicht von den Metzgern von Argelès entwendet worden waren, doch es gab eine Vorschrift, die es untersagte, sie zugunsten ihrer Besitzer zu schlachten. In unserem Sektor waren wir alle krank, und das fast immer. Die Ruhr war allgemein verbreitet, die Kinder weinten tagelang vor Hunger, und dann starben sie, vor allem am Anfang. Später begann das Rote Kreuz mit seinen Besuchen und setzte sich bei den Verantwortlichen dafür ein, die Baracken bevorzugt den Frauen mit Kindern zuzuweisen. Aber auch so sah man überall Frauen im Sand sitzen, mit ihren Babys im Schoß oder auf dem Arm, und sie mit ausgetrockneter Brust stillen. So saßen sie einige Tage an derselben Stelle, dann sah man sie nicht mehr und wusste, dass es zu Ende war, das Baby war gestorben.
In der ersten Zeit waren wir zu erschlagen, um uns für das politische Geschehen zu interessieren, geschweige denn für irgendetwas anderes. Aber später, genauer gesagt ab dem Zeitpunkt, als wir uns in den Baracken einrichten konnten, erwachten die Gewerkschaftler und die Aktivisten zu neuem Leben, und es gelang ihnen, sich zu informieren. Ende Februar erfuhren wir, dass Frankreich das nationalistische Regime anerkannt und Verhandlungen über die Rückführung der Flüchtlinge eröffnet hatte, weil diese sie viel Geld kosteten. Am 2. März wurde Marschall Pétain in Burgos zum Botschafter von Frankreich ernannt, bei seinem alten Freund Franco. Er setzte die Frage der Flüchtlinge auf die Tagesordnung, doch er hatte viel zu tun, besonders, was die Rückgabe spanischen Vermögens betraf, das von den französischen Banken zurückgehalten wurde. In Spanien verkündete El Caudillo, der Führer, ein Gesetz der politischen Verantwortlichkeit, das erlaubte, die republikanischen Anführer bei ihrer Rückkehr ins Land anzuklagen und zu inhaftieren. Das Wort ›inhaftieren‹ war im nationalistischen Wortschatz häufig ein Synonym für ›beseitigen‹: Wenn jemand im Gefängnis landete, hörte niemand mehr von ihm, und es bestand eher die Chance, mit den Füßen voraus als auf zwei Beinen wieder herauszukommen. In den französischen Lagern war es ähnlich, doch die Schamlosigkeit der Regierung wurde durch die Fürsorge einiger Privatpersonen gelindert. Ein Beispiel? Als die Kältewelle ihren Höhepunkt erreicht hatte, führte eine englische Tierschutzgesellschaft eine Inspektion bei uns durch: Die Delegierten gingen gruppenweise an uns vorüber und fragten, ob wir Haustiere hätten und ob es ihnen an nichts fehlte!
Persönlichkeiten mieden Argelès im Allgemeinen, das als Nest von Gewerkschaftlern und militanten Republikanern betrachtet wurde, doch wir erhielten einige Besuche. Ich erinnere mich an einen Abgeordneten der Partei, der dem Empfang von Ausreißern beiwohnte, und an einen Journalisten von La Dépêche , der einen lobenden Artikel über die Organisation des Lagers schrieb. Laut ihm ein Paradies auf Erden. Im Juli inspizierte Pétain das mustergültige Lager von Barcarès, geplant für siebzigtausend Flüchtlinge in tausend Baracken mit jeweils siebzig Menschen! Die Zeitungen veröffentlichten Fotos und enthusiastische Artikel, in denen der Komfort in diesen Hunderten von ›Chalets‹ gerühmt wurde, die in einer Reihe angeordnet waren und deren Dächer aus Wellblech in der Sonne glänzten. Tatsächlich verhinderte das Wellblech jegliche Luftbewegung, und die Hitze darunter war grauenvoll.
Im Frühling begannen die Soldaten davon zu reden, dass wir im Land untergebracht werden sollten. Die etwas wohlhabenderen Leute suchten Mädchen für ihren Haushalt, die Bauern Helfer bei der Feldarbeit. An einem bestimmten Tag kamen einige Matronen und begutachteten die Kandidatinnen: die Zähne, die Augen, die Muskeln … Wie Vieh. Doch es war eine Gelegenheit, aus dem Lager zu kommen und seine Haut zu retten. Meine Schwester und ich hatten uns eingeschrieben und gaben an, zusammenbleiben zu wollen: wir beide gemeinsam oder keine. Daraufhin wurde Teresa krank, und ich wollte sie nicht im Stich lassen. Die Krankheit wurde plötzlich schlimmer, und eines Nachts schreckte ich aus dem Schlaf auf: In meiner Umgebung fehlte etwas. Ich lauschte und begriff: ein Geräusch weniger. Es war Teresas Atmung.
Ein schrecklicher Augenblick. Ihr Körper, am Vorabend noch heiß vom Fieber, drückte kalt an meine Hüfte und meinen Schenkel. Einen Moment lang versuchte ich die Realität zu leugnen, dann begann ich zu zittern. Am ganzen Körper. Meine Hände, meine Beine, meine Brust waren nur noch ein Beben. Meine Zähne schlugen in der Stille der Baracke aufeinander. Ich glaube, es war dieses Klappern, das die Aufmerksamkeit meiner Nachbarinnen auf sich zog.
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