1 ...8 9 10 12 13 14 ...17 »Du, komm hierher«, schleuderte sie mir entgegen und zeigte auf die Treppe. »Ich habe mit dir zu reden.«
»Ich brauche sie hier, Madame«, sagte Arlette, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen.
»Félicie«, sagte der geschniegelte Herr, den ich gerade bediente, »ich muss Ihnen ein Kompliment machen. Sie haben da eine Perle aufgetan, wie mir scheint. Ihr Lehrmädchen ist die Liebenswürdigkeit in Person. Und eine außergewöhnliche Musikerin, wie man hört.«
»Danke, Désiré«, antwortete sie schroff. Und an mich gewandt: »Geh hinauf, habe ich dir gesagt.«
Im Laden war es still geworden, nachdem er einige Sekunden zuvor noch von Gesprächen erfüllt gewesen war. Die Wände drehten sich wieder um mich, und ich musste mich am Handlauf festhalten, um nicht auf der Treppe umzufallen.
»So geht das nicht weiter!«, rief Madame Puech aus und schlug die Tür hinter sich zu.
Noch eine Dummheit, und sie würde mich nach Argelès zurückbringen. Argelès! Allein dieses Wort flößte mir Entsetzen ein.
»Was habe ich getan, Madame?«
»Mach nicht so ein Gesicht, du unverschämtes Ding.«
»Aber …«
»Du hast auf dem Instrument der Brévent gespielt.«
»Auf dem Harmonium? Ja, das stimmt, ich habe auf die Bitte des Pfarrers hin Harmonium gespielt. Aber woher wissen Sie das?«
»Woher ich das weiß! In einem Dorf erfährt man alles, du dumme Gans. Vor allem hier, wo die Befestigungsmauer alles wie ein Echo zurückwirft.«
»Ist das schlimm, Madame?«
»Ist das schlimm? Ist das schlimm?«, rief sie aus, schüttelte den Kopf und hob den Blick zur Decke. »Natürlich ist es schlimm, denn auf diese Weise verlieren wir eine Kundin.«
»Was ist hier los?«, fragte Monsieur Puech und stieß die Tür auf. »Man hört euch bis in die Backstube.«
»Es ist so, dass …«, begann seine Frau.
»Es ist so, dass die Leute auf dem Bürgersteig warten und deshalb das Abendessen nicht fertig wird, das ist los. Also an den Herd mit dir, und lass das Mädchen seine Arbeit machen. Worauf wartest du?«, wandte er sich an mich.
Er trat zur Seite, um mich hinuntergehen zu lassen.
»Da siehst du, was du angerichtet hast«, warf er seiner Frau zu, ehe er mir folgte, »mit deiner Idee, eine Republikanerin aufzunehmen. Alles Hitzköpfe, ich habe es dir gesagt.«
Dennoch schien er bei der Mahlzeit, die auf meinen Einstieg in den Beruf – in seinen Beruf – folgte, voller Elan zu sein. Er forderte mich auf, die französischen Wörter, die bei der Unterhaltung fielen, zu wiederholen: Truthahn, Esskastanien, Herd, Teig …, und er übersetzte diejenigen, die ich nicht verstand, ins Katalanische, erklärte sie mithilfe von Gesten, sprach sie ganz deutlich aus und ermutigte mich bei meinen kleinen Fortschritten.
»Was ist mit dir los?«, fragte ihn seine Frau, als ich den Kaffee einschenkte.
»Es ist Weihnachten, und ich habe gute Laune, das ist los.«
»Es ist Weihnachten, aber es ist Krieg, und dein Sohn ist an der Front. Glaubst du vielleicht, dass er im Warmen vor einem Truthahn sitzt?«
»Ja, möglicherweise sitzt er tatsächlich im Warmen vor einem Truthahn«, erwiderte Monsieur Puech spöttisch. »Wissen wir es? Auf jeden Fall werden wir nicht vier Jahre dafür brauchen wie 1914, du wirst sehen. Dieses Mal werden wir die Deutschen über kurz oder lang wegfegen. Und dein Charles«, fügte er lachend hinzu, »wird schneller hier sein, als du glaubst.«
In diesem Moment waren auf der Treppe Schritte zu hören, und eine schwarze Gestalt tauchte im Türrahmen auf. Es war der Priester! Ein unerwarteter Besuch, den verschreckten Mienen meiner Gastgeber nach zu urteilen.
Monsieur Puech zog den Kopf ein und machte sich nicht einmal die Mühe, vom Stuhl aufzustehen, doch seine Frau begegnete dem Besucher mit Achtung für zwei: Sie erhob sich, nahm rasch ihre Schürze ab und verlangte eine Tasse mit Untertasse. Sie nahm die Zuckerdose mit und kam mit einigen elegant angeordneten Häppchen in einer hübschen Schale und einem Silberlöffel zurück, den sie von wo auch immer hergeholt hatte. Währenddessen murmelte sie mehr denn je vor sich hin. Man sprach über den Krieg, über diesen Winter, der keiner war, über Weihnachten. Nicht ein Wort dagegen über die Episode mit dem Harmonium, die so sehr auf Madame Puechs Seele lastete und bei der ich mich immer noch fragte, wie sie davon erfahren hatte. Es war kein Drama, einige Töne auf dem Harmonium der Gemeinde zu spielen. Bei uns zu Hause hätte niemand etwas dagegen gesagt, und niemand hätte überhaupt davon gewusst. Doch hier war alles so anders, die Reaktionen so unvorhersehbar!
Sie sprachen über Gott und die Welt, dann erhob sich der Priester plötzlich und sagte einen komplizierten Satz auf Französisch, dessen Sinn mir entging.
Die Unterhaltung geriet ins Stocken, und die Blicke richteten sich auf einmal auf mich.
»Ich entführe Sie«, sagte er und wandte sich mir zu. »Wir werden uns auf den Weg machen, um Ihr neues Dorf zu erkunden.«
Und da ich stumm blieb und nicht wusste, was ich tun sollte, fügte er hinzu: »Warten Sie ab, Sie werden es nicht bedauern.«
Es war mir nie in den Sinn gekommen, dass ein Priester sich für etwas anderes als die Messe interessieren könnte, eventuell noch für die Unterstützung der Armen. Das war es, dem sich der Pfarrer und seine Vikare in unserer Gemeinde in den Bergen widmeten. Der Pfarrer traf mich also unvorbereitet, und die Puechs waren scheinbar nicht weniger überrascht. Konnte ein junges Mädchen allein mit einem Priester eine unbekannte Stadt erkunden? Ziemte es sich wirklich, dass sie ihm auf die Befestigungsmauer oder in die Wachräume folgte? In Spanien auf keinen Fall. Der Priester wäre zur Ordnung gerufen und das junge Mädchen in ein Kloster eingesperrt worden. Und in Frankreich? Woher sollte ich wissen, was die Barriere der Pyrenäen für Veränderungen bei den Sitten und Gebräuchen mit sich brachte? Madame und Monsieur Puech schwiegen, Arlette war geflüchtet.
»Könnte Agnès uns begleiten?«, fragte ich auf gut Glück.
»Gute Idee!«, antwortete der Pfarrer und setzte sein Birett auf. »Wir werden sie auf dem Weg abholen. Es ist allerdings nicht sicher, dass sie mitkommt«, fügte er hinzu, als wir hinausgingen. »Über die Befestigungsmauer kann ich ihr nicht mehr viel Neues erzählen, aber wir können sie auf jeden Fall fragen.«
»Die Befestigungsmauer? Kennt sie die Befestigungsmauer so genau?«
»Ja, fast genauso gut wie ich … Ich mag Agnès sehr«, murmelte er ein wenig später so leise, dass ich es gerade noch verstehen konnte.
Wo war ich gelandet? Was war das für ein Dorf, in dem der Priester junge Mädchen in der Sakristei empfing, sie mit auf die Befestigungsmauer nahm und ganz offen die Bewunderung bekundete, die sie ihm einflößten?
Ich war gleichermaßen überrascht und verblüfft von dem, was ich seit dem Vorabend beobachtete. Die Spanier hatten zu jener Zeit eine hohe Meinung von Frankreich, als Land der Freiheit, der Demokratie und als Republik. Obwohl ich politisch nicht sehr bewandert war, kannte ich die großen Errungenschaften des Front populaire: die Vierzig-Stunden-Woche, Urlaubsgeld, Tarifverträge … Zeitschriften, Filme und die Wochenschau im Kino zeigten uns geschminkte Frauen in kurzen Kleidern (immerhin bis unter das Knie) und elegante Männer, die in Traumautos stiegen, um mit hundert Stundenkilometern auf ganz geraden Straßen dahinzusausen, oder aber hochmoderne Fabriken, Mähdrescher, Gymnastikwettbewerbe. Natürlich passte Villefranche nicht ganz in dieses Bild: Hier gab es weder Cabriolets noch Männer in dreiteiligen Anzügen, und die Puechs waren so gekleidet wie spanische Bäcker, nicht besser und nicht schlechter.
Tatsächlich versetzten mich die Befestigungsmauer und die kleinen verwinkelten Straßen eher ins Mittelalter zurück. Und deshalb erstaunten mich Agnès und der Priester umso mehr. Sie unterschieden sich völlig von den entsprechenden Spaniern, zumindest von denjenigen, die ich kennengelernt hatte, und für mich symbolisierten sie vom ersten Tag an die französische Modernität.
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