»Ach je.« Sie schob ihre Brille auf der Nase hoch und blickte auf, um in Declans Gesicht schauen zu können. »Sie sind ja gar nicht der Apothekenkurier.«
»Nein.« Er bemühte sich extra um ein nettes Gesicht für sie. »Ich suche den Mann, der in Nummer 5 wohnt, Shane O'Reilly.«
Nun warfen ihre Züge noch tiefere Falten, und sie wirkte verwirrt. Ihm wurde plötzlich bewusst, dass er gerade einen Fehler begangen hatte. Hatte sein Freund das Appartement überhaupt unter seinem richtigen Namen gemietet? Declan war sich nicht sicher. Der Geheimdienst scheute keine Mühen, um die Identität seiner Zuarbeiter zu schützen, doch umfasste dies auch Ausweisfälschung, um irgendwo unter falschem Namen leben zu können? Möglich war es durchaus.
»Er, äh … Er ist ungefähr so groß wie ich, hat rötliche Haare mit etwas Grau darin …«
»Oh, Sie meinen den von oben, der andersrum ist? Sie sind ein Freund von ihm?«
Sie nestelte erneut an ihrer Brille herum und sah Declan misstrauisch an. Er fühlte sich auf einmal vor den Kopf gestoßen. Andersrum – so umschrieb vornehmlich die ältere Generation der Londoner mutmaßliche Homosexuelle. Hielt sie O'Reilly tatsächlich für schwul? Declan musste sich ein Schmunzeln verkneifen. War Shane vielleicht schwul? Die Frage hatte er sich eigentlich noch nie zuvor gestellt. Der Mann war ledig, mittleren Alters, und scheinbar perspektivlos, obwohl Declan von jeher angenommen hatte, dass dieser einfach mit seinem Job verheiratet war. Darum wies er diese Vorstellung schnell wieder von sich. Es war ohnehin irrelevant für ihn. Er musste seinen Bekannten unbedingt finden, darauf kam es an.
»Ja, ich bin ein Freund von ihm. Wir wollten uns gestern treffen, aber er hat mich versetzt. Wissen Sie, ob er gestern oder überhaupt in letzter Zeit zu Hause gewesen ist?«
Die Frau überlegte. »Nein – nun da Sie es erwähnen, ich glaube nicht. Das erklärt auch, wieso Mr. Gamgee im Moment so grantig ist.«
Declan verstand gar nichts mehr. »Mr. Wer?«
»Gamgee. Das ist sein Kater.«
»Ach so.«
»Ein dicker, orange-brauner Kater. Normalerweise verhält er sich sehr still und ist sehr zahm, aber seit einigen Tagen hört man ihn miauen, und in der Wohnung ist auch schon mal was auf den Boden geknallt. Ich habe aber einfach angenommen, er sei – na ja, Sie wissen schon – ein bisschen rollig.«
»Ja, das wird's wohl sein.« Gepolter verband Declan allerdings vielmehr mit Handgreiflichkeiten als mit einem liebestollen Vierbeiner. »Und das Appartement ist im zweiten Stock?«
»Ja, die erste Tür rechts.«
»Danke.«
Declan zwängte sich hastig an der Alten vorbei und nahm zwei Stufen auf einmal. Oben an der ersten Tür hing ein Messingschild mit einer 5. Er rüttelte am Griff – sie war abgesperrt. Als er etwas fester gegen das Blatt drückte, spürte er plötzlich, dass nicht mehr viel fehlte, bis es nachgab. Mit gequälter Miene stellte er sich seitlich auf, hob die Schulter und rammte die Tür so leise wie möglich dicht über dem Riegel. Ein Teil des Rahmens zersplitterte sofort, aber er hielt den Griff fest, damit die Tür nicht aufflog und zu viel Lärm verursachte. Noch ein wenig Druck mit Gefühl, dann ließ sie sich knarrend öffnen.
»Miau!«
Tatsächlich, eine orangebraune Katze, die man nur als übergewichtig bezeichnen konnte, kam sofort angewatschelt.
»Miau! Miau!«
Declan ging in die Hocke und streichelte ihren Rücken, während er die Wohnung begutachtete. Sie war klein, geradezu winzig, so wie er es erwartet hatte. Hätte er schätzen müssen, wäre er von annähernd der gleichen Fläche wie der seines Wohnzimmers in den USA ausgegangen. Natürliches Licht fiel nur durch ein Einzelfenster ein, und so wie es aussah, belief sich das Appartement auf einem einzigen Raum, dessen Hauptaufenthaltsbereich mit Möbeln aus zweiter Hand eingerichtet worden war. Dafür herrschte jedoch überall Sauberkeit und Ordnung – von einer Auseinandersetzung fehlte jede Spur – nur eine Topfpflanze war zu Bruch gegangen, gewiss bei einem Sprung des Katers auf die Fensterbank, um nach seinem Herrchen zu schauen.
»Miau!«
»Ja, okay, okay.« Declan erhob sich und trat vorsichtig ein. Nichts deutete darauf hin, dass Shane während der letzten Tage da gewesen war, aber das Gegenteil ließ sich natürlich ebenso wenig nachweisen. Alles hatte seinen festen Platz und schien auch an ebendiesem zu stehen oder zu liegen. Nachdem er sich in der Schlafnische und dem winzigen Bad umgeschaut hatte, um keine böse Überraschung zu erleben, fing Declan an, die Schränke in der Küchenzeile zu öffnen. Als er in einer Schublade gestapelte Dosen Katzenfutter fand, zog er den Deckel von einer ab und stellte sie auf den Fliesenboden.
»Mi…«
Das Tier vergrub augenblicklich sein Gesicht darin und begann, die Fleischbrocken unzerkaut hinunterzuschlingen. Declan machte eine weitere Konserve auf und platzierte diese daneben. Eine Katze hatte er selbst niemals besessen. Entsprach solche Gefräßigkeit der Norm, oder handelte es sich hierbei um ein Indiz dafür, dass sein Freund in der Tat verschwunden war? Nachdem er sich wieder aus der Nische zurückgezogen hatte, warf er noch einen Blick in den Wohnbereich. Immer noch wirkte nichts ungewöhnlich. Er war weder auf verdorbene Lebensmittel im Kühlschrank noch auf stinkenden Müll im Abfalleimer gestoßen. Vor der Tür lagen keine ungelesenen Zeitungen oder gestapelte Post. Jetzt hielt Declan in seinen Überlegungen inne: Diese wurde ja im Allgemeinen auch gar nicht persönlich zugestellt.
»Sei brav, Dickerchen.« Er schloss die Wohnungstür beim Hinausgehen, dann nahm er mit polternden Schritten die Treppe, weil es ihm so vorkam, als würde er auf Wolken treten.
»Danke«, sagte er noch einmal zu der alten Frau, die nach wie vor an der Tür ihres Appartements stand. Als er die Stufen ins Erdgeschoss mit demselben tauben Gefühl in den Füßen hinuntergestiegen war, blieb er vor der letzten ruckartig stehen. An der Wand im Flur hinter der Eingangstür hingen fest nebeneinander verankert mehrere Briefkästen aus Gusseisen mit dem markanten Logo der Royal Mail. Da er beim Hereinkommen auf die Treppe fokussiert gewesen war, hatte er diese gar nicht bemerkt – auch nicht den wichtigen Hinweis im Schlitz von Nummer 5. Denn dort ragte ein roter Papierzipfel hervor. Declan griff danach und zog ihn heraus.
Es war ein Zettel, der Shane mitteilte, dass sein Fach zu voll sei, weshalb er nun alle weiteren Zustellungen im nahegelegenen Postamt von Kennington & Walworth abholen müsse, bevor man ihn wieder in den Verteiler aufnehmen würde. Als Declan genauer hinschaute, konnte er die Kanten mehrerer Umschläge durch den schmalen Schlitz erkennen. Shane O'Reilly war also schon erheblich länger außer Haus, als er befürchtet hatte.
10:32 Uhr Ortszeit, Lincoln House – Basil Street 15 Knightsbridge, Londoner Innenstadt, England
Declan hatte von Shanes Appartement aus den Bus der Linie 3 genommen und war an der Haltestelle Holburn in die U-Bahn in Richtung Piccadilly gestiegen, um nach Knightsbridge zu gelangen. Jetzt saß er auf der Eingangstreppe eines mehrstöckigen Backsteinbaus voller Luxuswohnungen. Ein starker Gegensatz zu dem, was er in Lambeth gesehen hatte. Auf beiden Seiten parkten an den Rändern der schmalen Einbahnstraße teure Schlitten, und schmucke Eisenzäune grenzten einen Landschaftsgarten nach dem anderen vom Bürgersteig ab.
Aufgrund der vielen Überwachungskameras und Sicherheitskräfte in dieser Gegend hatte Declan seinen Warteplatz schon mehrmals gewechselt und sich seine dunkelblaue Mütze mit dem Esso-Logo tief ins Gesicht gezogen, um nicht aufzufallen und unerkannt zu bleiben.
Wie in so vielen Wohnsiedlungen Londons war auch hier eine Arbeitskolonne mit der Sanierung der Fassade eines der Nachbargebäude beschäftigt, während sich Touristen an der Kulisse erfreuten, die Architektur im Queen-Anne-Stil fotografierten oder durch die nahegelegenen Nobelkaufhäuser bummelten. Declan hoffte darauf, dass er sich ins Bild fügte und unter den auffälligen Auswärtigen nicht besonders hervorstach.
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